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NUSO-Archiv - Umweltgeschichtliches Zeitungsarchiv für Osnabrück
Umweltgeschichtliches Zeitungsarchiv für Osnabrück
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Erscheinungsdatum:
aus Zeitung:
Überschrift:
„Keiner fragt, warum ich hier stehe″
Zwischenüberschrift:
Wie die Straßenzeitung „Abseits″ einem Osnabrücker Halt gibt
Artikel:
Kleinbild
Originaltext:
Anfangs schämte er sich. Als Sven Hildebrandt sich vor 20 Jahren zum ersten Mal in die Osnabrücker Fußgängerzone stellte, um die Straßenzeitung Abseits″ zu verkaufen, war das ein öffentliches Eingeständnis, dass er Probleme hatte. Doch warum er in der Kälte steht und stumm auf Käufer wartet, fragt ihn fast nie jemand. Dies ist seine Geschichte.

Sven Hildebrandt entgeht nichts. Der 43-Jährige steht still und leicht vorgebeugt auf seinem Stammplatz in der Großen Straße vor Apollo-Optik, direkt gegenüber dem Eingang von L+ T. Er schaut den Menschen zu, die an ihm vorbeihetzen, und wartet darauf, dass sich einer aus der Menge löst und auf ihn zukommt, um eine Abseits zu kaufen. Die Zeitschriften hält er vor sich in der Hand, an seiner Jacke trägt er einen Ausweis mit Foto, der ihn als offiziellen Abseits-Verkäufer ausweist. Die meisten, die du siehst, sind in Eile″, sagt er. Manche Passanten blicken zu Boden, manche sehen ihn und machen einen Bogen, manche gucken und gehen direkt an ihm vorbei, viele nehmen ihn gar nicht wahr.

Du siehst, ob die Leute gestresst sind, du siehst alles″, sagt er. Er und die anderen 30 bis 35 Abseits-Verkäufer in Stadt und Landkreis sind stille Beobachter. In den 25 Jahren, die es die Straßenzeitung gibt, hat sich die Unaufdringlichkeit bewährt. Sie sprechen die Passanten nicht an, sondern warten, dass sie angesprochen werden. Heute hat Sven Hildebrandt keine großen Hoffnungen, viel zu verkaufen. Die meisten Osnabrücker haben die aktuelle Abseits-Ausgabe von Dezember bereits; die neue erscheint Ende Januar. Doch es dauert nicht lange, und ein älterer Herr kommt auf ihn zu, kauft Sven Hildebrandt ein Exemplar ab. Direkt danach spricht eine Frau ihn an: Eine Abseits, bitte! Es läuft erstaunlich gut.

Er bettelt nicht

1, 60 Euro kostet eine Ausgabe im Verkauf. Für die Hälfte hat Hildebrandt die Zeitung in der Tageswohnung beim katholischen Verein für Soziale Dienste (SKM) gekauft. Den Gewinn darf er behalten. Die Frau gibt Sven Hildebrandt drei Euro, der Rest ist für ihn. Und eine ältere Dame, die die Ausgabe wohl schon hat, gibt ihm einfach so etwas Geld. Das passiert öfters″, sagt er. Sogar eine Jacke hat er schon mal geschenkt bekommen, als er im Winter im T-Shirt draußen stand, um die Zeitung zu verkaufen.

Das und die Kontakte mit den Menschen, die er dort draußen regelmäßig trifft, sind die schönen Seiten. Hildebrandt hat das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, wenn er morgens seinen Standplatz einnimmt. Er bettelt nicht, er verkauft ein Produkt und dafür bekommt er durchaus Wertschätzung.

Es gibt aber auch Zeiten, in denen die Stadt rappelvoll ist und er 45 Minuten lang kein einziges Exemplar los wird. Ein bisschen tut es ihm immer noch weh, wenn die Leute wegschauen. Abgelehnt zu werden ist nicht schön″, sagt der 43-Jährige. Er wurde auch schon bespuckt und als arbeitsloser Penner″ und Stück Scheiße″ beschimpft. Vor allem jüngere Leute rufen im Sprüche zu wie: Geh mal arbeiten!″, berichtet er. Es fragt aber keiner, warum ich hier stehe.″

Er ist einer der Menschen am Rande der Gesellschaft, auf deren Situation die Straßenzeitung aufmerksam macht und die von der Osnabrücker Wohnungslosenhilfe des SKM aufgefangen werden, die hinter der Abseits steckt. Seit 25 Jahren gibt es die Straßenzeitung bereits. Wir wollen Verständnis wecken für die besonderen Lebenslagen der Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben″, sagt Chefredakteur Thomas Kater. Ab der Februar/ März-Ausgabe steigt der Verkaufspreis aus wirtschaftlichen Gründen auf 2, 20 Euro, kündigt er an, 1, 10 Euro behalten die Verkäufer. Sozialarbeiter Kater ist gleichzeitig auch Leiter der Tageswohnung in der Bramscher Straße 11, direkt am Hasetor.

Sven Hildebrandt kommt regelmäßig hierher. Etwa zum Frühstück. Für 1, 25 Euro bekommen die Gäste der Tawo″ zwei Brötchen und Kaffee. Das ist günstig, aber nicht kostenlos. Es soll nicht als Almosen vergeben werden″, sagt Sozialarbeiter Thomas Kater. Das hat etwas mit Selbstwertgefühl zu tun.″ Acht Männer und zwei Frauen sitzen am Frühstückstisch, unter ihnen sind auch Mitarbeiter, teils ehrenamtlich, teils hauptamtlich. In der Mitte stehen große Teller mit diversen Sorten Aufschnitt und frischem Gemüse.

Die meisten Gäste der Tageswohnung waren schon einmal wohnungslos oder sind es noch. Im Nebenraum liegt ein Mann auf dem Sofa vor dem Fernseher und schläft. Auch ein Computer ist dort installiert, den die Gäste nutzen können.

Ich hab mich an die Leute gewöhnt″, sagt Sven Hildebrandt. Ein anderer Stammgast ergänzt: Man kann sich hier unterhalten und Zeitung lesen.″ Er heißt Ralf Lischka. Alleine zu Hause würde mir die Decke auf den Kopf fallen.″

Er und Sven Hildebrandt kennen sich aus dem Laurentiushaus. Dort kann der SKM bis zu 42 Wohnungslose aufnehmen. Sozialarbeiter betreuen sie, bis sie wieder alleine klarkommen und in eine eigene Wohnung ziehen können.

Vor 20 Jahren erfuhr Sven Hildebrandt von einem Abseits-Verkäufer, dass es die Wohnungslosenhilfe mit der Tageswohnung und dem Laurentiushaus gibt. Damals war er zum ersten Mal obdachlos und lebte auf der Straße. Es war direkt nach der Bundeswehrzeit. Während er seinen Wehrdienst ableistete, wurde ihm die Wohnung gekündigt. Dann ging auch noch seine Beziehung kaputt, und er verlor den Halt. Mehrere Ausbildungen hat er in seinem Leben begonnen, aber keine abgeschlossen. Psychische Probleme kamen hinzu, auch Drogen und dann noch die Wirbelsäulenerkrankung Morbus Bechterew.

Wenn er heute in der Großen Straße steht und die Abseits verkauft, hat er oft Schmerzen und steht deshalb leicht nach vorne gebeugt. Nur die Kälte, die macht ihm nichts aus. Kälte fängt für mich bei minus zehn Grad an″, sagt er. Damals, als er im Winter nach seiner Bundeswehrzeit draußen übernachtete, waren es minus zwanzig Grad, erinnert er sich. Das war schlimm.″

Von Drogen lässt er schon lange die Finger, erzählt er. Heute ist es die Wettsucht, die ihm Probleme bereitet. Das zweite Mal, dass Sven Hildebrandt auf der Straße lebte, war Anfang 2015. Nachdem er seine Wohnung verloren hatte, war er erst eine Zeit lang bei Freunden untergekommen. Das geht aber nicht auf Dauer.″ Die Stadt Osnabrück unterhält zwar mehrere Notunterkünfte, aber am Frühstückstisch in der Tageswohnung ist die Meinung darüber deutlich: Auf der Straße ist es besser. Sie berichten von Dreck, Gewalt und Diebstahl in den Notunterkünften.

Der 43-jährige Hildebrandt achtet sehr auf sein Äußeres das war auch so, als er Platte machte. Niemand sollte ihm seine Obdachlosigkeit ansehen. Seine Sachen schloss er in einem Spind in der Tageswohnung ein, dort wusch er sich und seine Klamotten.

Zeitweise übernachtete er in einem Altpapiercontainer am Stadthaus bis es einmal plötzlich ruckelte. Die Anekdote kennt jeder am Frühstückstisch. Die Müllabfuhr wollte den Container leeren und entdeckte Sven Hildebrandt. Hey, da ist Oskar aus der Tonne″, habe der Mitarbeiter gerufen und gelacht. Hildebrandt lacht nicht, als er das erzählt.

Ralf Lischka berichtet: Ich habe die Erfahrung gemacht: Als Obdachloser ist man nichts wert.″ Die anderen nicken. Dabei kann es so schnell gehen. Lischka war jahrelang Berufskraftfahrer. Dann wurde sein Lohn nicht mehr gezahlt, er verlor seine Wohnung und lief los. Von Bremen bis nach Bramsche. Er wusste nicht wohin, war am Boden zerstört und vernachlässigte auch sein Äußeres. Da haben sie mich zum Laurentiushaus geschickt.″ Mittlerweile gehe es ihm gut, sagt er. Seit 2012 schon hat er wieder eine eigene Wohnung. Doch Arbeit hat der 57-Jährige nicht mehr. Die Tageswohnung gibt ihm Halt und Struktur.

Das Problem Wohnungslosigkeit ist meist mit der Wohnung nicht behoben″, sagt Sozialarbeiter Thomas Kater. Es ist völlig legitim, hierherzukommen, auch wenn man eine Wohnung hat.″ Für die Abseitsverkäufer gilt dasselbe: Wohnungslosigkeit ist keine Bedingung, um die Straßenzeitung verkaufen zu können.

50 bis 60 Gäste hat die 1989 gegründete Tageswohnung pro Tag, rund 80 Prozent davon sind Männer. Geöffnet ist die Tawo unter der Woche von 8 bis 17 Uhr, freitags bis 13 Uhr. Am Wochenende machen in der kalten Jahreszeit Ehrenamtliche eine Öffnung von 9 bis 14 Uhr möglich. Die Zahl der Gäste, die unter Psychosen leiden, nimmt zu, berichtet Kater. Warum, darüber rätseln er und seine Kollegen selbst. Vielleicht, weil diese Menschen angesichts des angespannten Wohnungsmarktes eher auf der Straße landen, vermuten sie. Der Job, den Thomas Kater und seine Kollegen machen, wird dadurch nicht leichter. Und aktuell ist die Zahl der Wohnungslosen wieder etwas gestiegen: 307 Männer und Frauen sind dem SKM bekannt. 50 davon leben auf der Straße im September waren es noch 40.

Sven Hildebrandt hat längst wieder eine Wohnung. Es war eine Kollegin aus dem Abseits-Chor, die sie ihm nach vier Monaten Wohnungslosigkeit 2015 vermittelt hat. In dem Chor singen Besucher der Tageswohnung sowie ehrenamtliche Mitarbeiter der Tageswohnung und der Straßenzeitung Abseits. Auch Sven Hildebrandt war dort jahrelang aktiv. Wären die Tageswohnung und das Laurentiushaus nicht gewesen″, sagt er – „ ich hätte nicht gewusst, wo ich hinsoll″.

Bildtexte:
Sven Hildebrandt verkauft seit 20 Jahren Abseits″. Sein Stammplatz befindet sich in der Großen Straße vor Apollo-Optik.
Ralf Lischka war einst selbst wohnungslos. Er hat die Erfahrung gemacht: Als Obdachloser ist man nichts wert.″
Frühstückszeit in der Tageswohnung. Wohnungslose wie Sven Hildebrandt kommen regelmäßig hierher. Ihnen geht es vor allem um den Austausch miteinander. Wer möchte, kann auch mit den Sozialarbeitern ins Gespräch kommen.
Fotos:
Thomas Osterfeld

Redakteurin Sandra Dorn hat in den vergangenen Jahren viele Wohnungslose kennengelernt. Sie alle haben völlig unterschiedliche Biografien und doch zwei Gemeinsamkeiten: Jeder versucht irgendwie, sich ein besseres Leben aufzubauen. Und jeder hat mit herben Vorurteilen zu kämpfen. Früher war sie oft unsicher, wie sie auf Obdachlose oder Bettler reagieren soll, wenn sie sie ansprechen. Heute weiß sie: Ein freundliches Guten Tag″ ist das Mindeste und auch gar nicht schwer.

Fotograf Thomas Osterfeld hat Abseits in den vergangenen knapp 25 Jahren begleitet und tiefen Respekt vor der Zähigkeit, der Geduld, der Freundlichkeit und Ausdauer, mit der Abseits-Verkäufer an ihren Verkaufsplätzen stehen. Abseits ist für ihn ein gutes Projekt, um auf Menschen in schwierigen Situationen aufmerksam zu machen.
Autor:
Sandra Dorn


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