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NUSO-Archiv - Umweltgeschichtliches Zeitungsarchiv für Osnabrück
Umweltgeschichtliches Zeitungsarchiv für Osnabrück
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Erscheinungsdatum:
aus Zeitung:
Überschrift:
„Du wirst überleben und erzählen″
Zwischenüberschrift:
Erna de Vries und Sally Perel erinnern und mahnen
Artikel:
Kleinbild
Originaltext:
OSNABRÜCK. So still ist es selten im Klassenraum. Wenn Erna de Vries und Sally Perel wie derzeit Schulen in Osnabrück und Umgebung besuchen, wundern sich Lehrer, wie gebannt ihre Schüler zuhören. Was die Gäste zu erzählen haben, verschlägt vielen den Atem. Sie haben den Nazi-Terror überlebt. Jetzt trafen sich die beiden Zeitzeugen zu einem Gespräch in der Volkshochschule mit Direktor Carl-Heinrich Bösling und Gedenkstättenleiter Michael Gander.

Erna de Vries hieß mit Nachnamen in den 1930er-Jahren noch Korn. Als Mädchen erlebte sie, dass die Nationalsozialisten die Juden diskriminierten, also auch sie und ihre verwitwete Mutter. Sie verloren ihren Lebensunterhalt und mussten zuschauen, wie ihre Wohnung in Kaiserslautern verwüstet wurde. 1943 verschleppten Nationalsozialisten sie ins Konzentrationslager Auschwitz und ermordeten die Mutter. Kurz vor Ende des Krieges befreiten amerikanische Soldaten Juden auf einem Todesmarsch aus dem Konzentrationslager Ravensbrück unter ihnen befand sich Erna de Vries.
Meine Mutter sagte zu mir: Du wirst überleben und erzählen, was man mit uns gemacht hat.″ Es sollte noch Jahrzehnte dauern. 1998 ludeine Schule sie erstmals ein. Seitdem ist sie als Zeitzeugin unterwegs. Die Prophezeiung ihrer Mutter ist zu ihrer Aufgabe geworden. Auch wenn Erna de Vries nach ihren Besuchen in Schulen wieder zu Hause ist, erfährt sie oft noch von der Nachwir-kung ihres Berichts: Ganze Schulklassen schreiben mir.″ Sally Perel, ebenfalls Jude, überlebte auf eine abenteuerliche Weise. Nachdem Nationalsozialisten das Schuhgeschäft der Familie in Peine zerstört hatten, zog die Familie nach Polen. Als die Wehrmacht ihn während des Krieges gefangen nahm, gab sich Sally eigentliche Salomon Perel als Volksdeutscher aus. Er wurde Soldat und kam später in eine Schule der Hitlerjugend. Nach dem Krieg zog er nach Israel und schrieb vier Jahrzehnte später das Buch Ich war Hitlerjunge Salomon″, das 1990 verfilmt wurde. Zweimal im Jahr ist Sally Perel in Deutschland zu Gast in Schulen. Osnabrück kennt er aus seiner Kindheit, als er seinen Vater auf Geschäftsreisen hierher begleitete. Darum hat diese Stadt für mich eine besondere Bedeutung.″
Und er erlebte im Deutschland der 1930er-Jahre ein eindoktrinierte und militarisierte Jugend. Die Einberufung galt als glücklicher Tag.″ Auch wenn er sagt, dass sich die gegenwärtige Jugend um 180 Grad gedreht″ hat, will der alte Herr an seiner Arbeit als Zeitzeuge festhalten. Die sieht er als Mission. Ich fühle mich manchmal wie ein Wächter vor dem Tor.″
Es kommen manchmal Schüler und bitten um Verzeihung. Doch dann sage ich: Ihr seid nicht schuldig nur verantwortlich für die Zukunft.″ Sally Perel erinnert sich an einen denkwürdigen Besuch in einer Heidelberger Schule, wo eine Gruppe Heil Hitler″ rief. Die anderen Schüler wollten, dass sie rausgehen, aber ich wollte, dass sie bleiben und zuhören. Am Ende haben sie sich Bücher von mir signieren lassen.″
Erna de Vries und Sally Perel wissen: Die erste Nachkriegsgeneration hat geschwiegen.″ Heute hören Schüler, was in der Generation ihrer Groß- und Urgroßeltern geschehen ist, und zwar, wie Volkshochschuldirektor Carl-Heinrich Bösling beobachtet hat, oft anders, als die Geschichten in den Familien weitergegeben wurden″. Denn manches sei mit dem Versuch der Rechtfertigung verzerrt worden. So sieht es auch Michael Gander, Leiter der Gedenkstätte Augustaschacht: Vieles wurde in den Familien gar nicht angesprochen.″ Umso wichtiger seien die Berichte von Zeitzeugen. Bösling und Gander wissen die besondere Wirkung persönlicher Schilderungen zuschätzen.
Doch fragen sich Carl-Heinrich Bösling und Michael Gander auch, wie es um die Zukunft der Erinnerung an die Zeit und die Verbrechen des Nationalsozialismus″ bestellt sein wird. In den vergangenen Jahrzehnten zählten sie Besuche von Zeitzeugen vor rund 40 000 Schülernin der Region Osnabrück. Doch je betagter sie sind, desto weniger werden es künftig sein. Erna de Vries ist 87, Sally Perel 86 Jahre alt. Ihr Leben ist zwar dokumentiert, doch kann das die persönliche Begegnung ersetzen? Die Antwort bleibt offen.
Doch die beiden anwesenden Zeitzeugen zeigen sich unermüdlich. Sally Perel sagt es so: Ich komme wieder solange mich meine Schuhe tragen.″

Bildtext:
Wenn sie erzählen, hören alle zu. Dieses Mal waren die Zeitzeugen Sally Perel und Erna de Vriesauch in der Volkshochschule zu Gast, um sich mit Direktor Carl-Heinrich Bösling (links) und Michael Gander (rechts) zu unterhalten.
Foto:
Egmont Seiler
Autor:
Jann Weber


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