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NUSO-Archiv - Umweltgeschichtliches Zeitungsarchiv für Osnabrück
Umweltgeschichtliches Zeitungsarchiv für Osnabrück
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Inhalt:
Überschrift:
MG-Salven auf dem Neumarkt
Zwischenüberschrift:
Februar 1919: Gewaltausbrüche beim Osnabrücker „Hungeraufstand″
Artikel:
Kleinbild
Originaltext:
Die Umwälzungen nach der November-Revolution 1918 sind in Osnabrück bis dato weitgehend friedlich abgelaufen. Im Februar 1919 kommt es jedoch zu einem Hungeraufstand″ in der Stadt mit Schussverletzten, Gefangenenbefreiungen und Plünderungen.

Osnabrück Grund für die Unruhen sind weitere Kürzungen der Lebensmittelverteilung, unmittelbarer Auslöser aber ist wohl die Ankündigung eines Festes der Bediensteten des Lebensmittelamtes. Sie wirkt angesichts gravierender Nahrungsmittelknappheit wie eine Provokation. Tausende von Arbeitern und demobilisierten Soldaten ziehen am 19. Februar mit roten Fahnen und Plakaten wie Raus mit dem Speck″ oder Laßt die Kinder nicht verhungern! vor das Rathaus.

Die Gewerkschaftssekretäre Heinrich Groos und Walter Bubert versuchen, auch namens der SPD und des Arbeiter- und Soldatenrats, die Menge zu beruhigen. Groos veranlasst, dass eine Gruppe von Vertrauensleuten zu Oberbürgermeister Julius Rißmüller vorgelassen wird, um mit ihm und dem Regierungspräsidenten eine gerechtere″ Verteilung der Lebensmittel zu verhandeln.

Mit zunehmender Dauer der Verhandlung wird die Menge unruhiger. In der Darstellung der Osnabrücker Zeitung″ ruft ein auf der Rathaustreppe stehender Matrose: Alle Mariner hier auf die Treppe″, woraufhin ein Sturm auf die Rathaustüren einsetzt. Die Wachen werden an die Wand gedrückt, mit lautem Gejohle verschafft man sich Zugang zum Rathaus.

Bubert teilt ein erstes Verhandlungsergebnis mit: Die Brotration wird um 300 Gramm pro Kopf und Woche erhöht, es gibt Sonder-Zuteilungen von Pferdefleisch und Zucker. Die Demonstranten geben sich damit aber nicht zufrieden. Sie verlangen, dass sich Rißmüller und Stadtbaurat Friedrich Lehmann auf der Treppe zeigen. Rißmüller erscheint, wird mit Pfui-Rufen empfangen und gibt eine Erklärung ab, die aber nur von Näherstehenden akustisch verstanden wird: Schuld am Fehlen des Brotgetreides sei nicht die Stadt, sondern die Reichsgetreidestelle. Sie habe Mehl zugeteilt für eine Einwohnerzahl von 74 000, während durch die Demobilmachung verschiedener Truppenteile 10 000 Menschen mehr in Osnabrück zu ernähren seien.

Vereinbart wird, dass ab sofort die von der Arbeiterschaft zu bestimmenden Vertrauensleute der städtischen Lebensmittelkommission angehören. Sie sollen am nächsten Tag die städtischen Lebensmittellager besichtigen und anschließend nach Berlin fahren, um bei der Reichsbehörde eine schleunige Mehrzuweisung″ von Lebensmitteln zu erwirken.

Derweil verlangt die Menge auf dem Markt immer stürmischer nach Stadtbaurat Lehmann. Er ist der Buhmann, weil er bislang für Detailregelungen der Lebensmittelzuteilung verantwortlich war. Er wird in seinem Büro nicht angetroffen. Die Rathausbesetzer zertrümmern daraufhin das Mobiliar. Bubert versucht wiederholt, die Menge zu einem geordneten Abzug zu bewegen, doch vergebens. Ein Soldat schwingt sich an der Treppenbrüstung empor und gibt die Parole aus: Auf zum Westerberg ins Millionenviertel!

Er findet zahlreiche Anhänger. An Bergstraße und Edinghäuser Straße dringen die Demonstranten in jede Villa ein, wobei je drei bis fünf Mann sich die Räume zeigen lassen und Notizen über die vorgefundenen Vorräte anfertigen. Ein Hausbewohner fragt, mit welchem Recht die Hausdurchsuchungen vorgenommen würden. Heute gibt′s kein Recht mehr das nehmen wir uns selbst″, bekommt er zur Antwort.

Der Hauptstrom der Demonstranten zieht zum Neumarkt. Das Verlagshaus J. G. Kisling hat sich mit der hier verlegten Osnabrücker Zeitung″ den besonderen Zorn der entlassenen Soldaten zugezogen, nachdem in der Abendausgabe des 18. Februar in einem Artikel der Satz stand: Es ist schon eine Schande, daß der Waffendienst zum Söldnerhandwerk erniedrigt wird.″

Eine Menschenmenge dringt in das Verlagshaus ein und zerrt den Schriftleiter auf die Außentreppe zum Neumarkt hin. Er soll Rede und Antwort stehen, welche Haltung das Blatt zum Soldatenstand einnehme. In dem allgemeinen Tumult kann er sich jedoch nicht verständlich machen. Scharfmacher drängen nach vorne und beginnen, den Schriftleiter zu misshandeln. Einigen Besonnenen gelingt es, die Angriffe auf den wehrlosen Mann zu beenden. Die Redaktion verspricht, am nächsten Tag eine Klarstellung zu eventuell missverständlichen Sätzen abzudrucken.

Danach zieht die Menge zum nahe gelegenen Gerichtsgefängnis, wo man die Befreiung von acht bis neun Inhaftierten durchsetzt. Mehrere Stunden lang bleibt der Neumarkt besetzt. In Ansprachen werden die Forderungen immer höhergeschraubt. Die ursprünglichen Anführer der Protestbewegung haben die Lage nicht mehr im Griff.

Schließlich erscheint eine Sicherheitskompagnie mit sechs Maschinengewehren und schießt zur Abschreckung Salven in die Luft. Gleichwohl gibt es einige Verletzte, möglicherweise durch Querschläger. Ein Mann gerät unter die Straßenbahn und wird lebensgefährlich verletzt.

In den Abendstunden wird auch noch die Redaktion der zentrumsnahen Osnabrücker Volkszeitung″ am Breiten Gang aufgesucht. Die Redakteure Dr. Fromm und Schumacher stellen sich einer Abordnung der Demonstranten, die dem Blatt arbeiterfeindliche Artikel″ vorwerfen. Auf die Frage, um welche Artikel es sich handele, kommt keine Antwort. Auf den Fluren ertönen Ausrufe von nachrückenden Protestierenden: Heraus mit der schwarzen Bande! und Nieder mit den Pfaffen! Die Redaktion betont, dass sie Tausende von christlich organisierten Arbeitern zu ihren Lesern zähle und stets eine arbeiterfreundliche Haltung eingenommen habe.

Auf dem Neumarkt versammelt sich am nächsten Morgen wieder eine große Menschenmenge und versucht abermals den Sturm auf das Gefängnis. Einige wegen Mundraubs und anderer leichterer Vergehen Inhaftierte werden freigelassen, Lebensmittelschieber und Schwerverbrecher″ bleiben jedoch in Haft. Die Arbeitersekretäre Groos und Bubert halten Ansprachen auf der Freitreppe des Justizgebäudes, in denen sie zu Besonnenheit und Ruhe ermahnen. Die Sicherheitskompagnie wird zurückgezogen, die Menge verläuft sich allmählich.

Die traurigen Vorfälle″, wie die Osnabrücker Zeitung″ sie bezeichnet, führen an den Folgetagen dazu, dass Oberbürgermeister Rißmüller seinen Rücktritt zum 1. April 1919 ankündigt. Die persönlichen Angriffe und Demütigungen während der Rathausbesetzung haben ihn schwer mitgenommen. Tausende Osnabrücker unterschreiben jedoch eine Eingabe, in der sie ihm das Vertrauen aussprechen. Die Osnabrücker Presseorgane stoßen ins selbe Horn. Rißmüller revidiert seinen Entschluss und bleibt bis 1927 Osnabrücks Oberbürgermeister.

Bildtext:
Das Verlagshaus Kisling am Neumarkt, hier in friedlicheren Zeiten fotografiert, wurde genau wie das Rathaus am 19. Februar 1919 gestürmt. Foto: R. Lichtenberg jr., aus: R. Spilker, Lichtenberg. Bilder einer Stadt. 1900–1940, Bramsche, 1996
Autor:
Joachim Dierks


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