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Nur jeder dritte Deutsche glaubt, dass aus den Weltkriegen des letzten Jahrhunderts die richtigen Lehren gezogen worden sind und heute alles dafür getan werde, um Kriege zu vermeiden. Was droht in der Zukunft? Osnabrück Nur eine Minderheit von 35 Prozent der Deutschen sagt, dass die historische Erfahrung von Erstem und Zweitem Weltkrieg heute noch handlungsleitend sei. 62 Prozent der Befragten glauben es nicht. Das ergab eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa für unsere Redaktion. Anlass für die Befragung ist der 100. Jahrestag des Endes des Ersten Weltkriegs an diesem Sonntag. Am 11. November 1918 wurde der Waffenstillstand von Compiègne geschlossen. Besonders ältere Deutsche, die direkte Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg oder unmittelbare Folgen für ihre Familie erlebt haben, sind ernüchtert. Von ihnen geben 69 Prozent an, aus dem Grauen der Vergangenheit seien keine hinreichenden Konsequenzen gezogen worden. Bei den unter 18-Jährigen ist es nur jeder zweite Befragte. Wenig anders sieht die Lage aus, wenn nach dem Selbstbild als Nation gefragt wird. Nur eine knappe Mehrheit (54 Prozent) hält das Deutschland der Gegenwart für friedliebend. 43 Prozent verneinen die Aussage. 60 Prozent meinen sogar, dass Kriege wieder auf dem Weg sind, ein gängiges Mittel der Außenpolitik zu werden. Nicht mal ein Drittel findet das nicht. Die Mehrheit sagt immerhin, dass die Konflikte der Zukunft kleiner bleiben werden als in der Vergangenheit. Mit knapp vier von zehn Befragten hält es zwar ein signifikanter Anteil für sehr oder eher wahrscheinlich, dass es noch einmal zu einem Weltkrieg kommt. 58 Prozent glauben jedoch, dies sei eher unwahrscheinlich beziehungsweise so gut wie ausgeschlossen. Für die Studie hat Forsa im Oktober 1516 Deutsche befragt. Wer den Linken oder der AfD zuneigt, hat besonders große Angst vor einem erneuten globalen Konflikt, wie sich dabei zeigte. Die Anhänger von Union und SPD, aber auch der Grünen geben sich weniger besorgt. Der Politologe und Konfliktforscher Herfried Münkler nennt als einen wesentlichen stabilisierenden Friedensfaktor die EU. „ Die europäischen Regierungen haben auf Krieg als politisches Mittel zur Durchsetzung ihres Willens verzichtet. Die Europäische Union ist ein genialer Mechanismus, um Konflikte zu entpolitisieren und zu entschärfen. Das hat über Jahrzehnte gut funktioniert″, sagte er im Interview mit unserer Redaktion. Risiken für die Zukunft sieht der Erfolgsautor („ Der Große Krieg″) vor allem in Afrika und im Nahen Osten. „ Mir machen die vielen kleinen Konflikte Sorgen, die sich ausweiten, manchmal merkt man das gar nicht, und dann ist plötzlich Krieg″, warnte Münkler. „ Solchen Konflikten müssen wir mehr Aufmerksamkeit widmen, denn sie können Flüchtlingsströme in großem Stil in Gang setzen.″ Russland solle der Westen hingegen „ nicht als den großen Gefährder hochstilisieren. Die Russen können zwar unangenehm sein, aber sie sind ziemlich rationale Akteure″, sagte der Berliner Wissenschaftler. Bildtext: Denkwürdiges Treffen im Eisenbahnwaggon: Im Wald von Campiegne nahe Paris trifft im November 1918 die deutsch Delegation unter Führung des Reichstagsabgeordneten Matthias Erzberger (Mitte) mit dem französischen General und Oberbefehlshaber der Allierten Ferdinand Foch (stehend rechts) zu Verhandlungen zusammen. Foto: dpa Kommentar Gefährlicher Generationswechsel Je älter, desto skeptischer: Dieser Befund über augenscheinlich mangelnde Lehren aus den beiden Weltkriegen überrascht nicht, aber er alarmiert gleichwohl. Es leben nur noch wenige Menschen, die den Zweiten Weltkrieg unmittelbar erlebt haben. Auch ihre Kinder scheiden zunehmend aus aktiven Positionen in Politik, Medien und Gesellschaft aus. Einschlägige Entscheidungen trifft heute die Enkelgeneration, in der die Erinnerung an das damalige Leid vielleicht nur noch als vages Unbehagen oder sporadische Erzählung präsent ist. Umso mehr muss das Ergebnis der Forsa-Umfrage Mahnung sein. Wer wirklich weiß, wovon er redet, der will keinen Krieg – auch nicht für eine gute Sache. Krieg ist keine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, wie es der Preußen-Stratege Clausewitz so locker formuliert hat. Krieg bezeugt das Ende der Politik und ihr Versagen. Er ist nicht im Ansatz etwas, auf das jemand stolz sein sollte, nichts, was jemand wollen sollte, auch und gerade nicht im blinden Eifer, das vermeintlich Richtige zu tun, denn das meinen die Akteure ja immer. Heutige Entscheidungsträger sollten diese kollektive Erfahrung nicht infrage stellen und Fehler früherer Generationen nicht wiederholen wollen. Dies gilt umso mehr, als das Töten im Krieg immer seltener Auge in Auge geschieht. Oftmals ist es nicht mehr mit einem Risiko für das eigene Leben verbunden. Wird der Einsatz tödlicher Drohnen und Roboter nicht maximal reguliert und am besten geächtet, sind die enthemmenden Folgen unabsehbar. Die Alten, die sich noch erinnern, werden umso mehr recht behalten, wenn sich zu den vergessenen Lehren und vermeintlich hehren Zielen auch noch ungeahnte technische Möglichkeiten gesellen. Viele Deutsche glauben, dass Kriege wieder auf dem Weg sind, ein gängiges Mittel der Außenpolitik zu werden. Der Historiker Herfried Münkler sieht noch etwas anderes kommen, nicht minder bedrohlich, „ etwas Drittes jenseits dessen, was wir klassisch Krieg und Frieden nennen″. Herr Münkler, Sie haben sich als Historiker zeitlebens mit dem Thema Krieg und Frieden befasst. Leben wir heute in einem friedlichen oder einem kriegerischen Zeitalter? Trotz der Kriege in Syrien und im Jemen sehen wir in der Summe im Augenblick ein eher noch friedliches Zeitalter, zumal wenn sich die Europäer im Hinblick auf sich selbst betrachten, sie hatten ja nach 1945, wenn wir den Balkan mal außer Betracht lassen, keine Kriege mehr auf ihrem Boden. Europa hat also die richtigen Lehren aus den beiden Weltkriegen gezogen? Unter dem Imperativ der Vermeidung von Kriegen und Konflikten: ja. Die europäischen Regierungen haben auf Krieg als politisches Mittel zur Durchsetzung ihres Willens verzichtet. Die Europäische Union ist ein genialer Mechanismus, um Konflikte zu entpolitisieren und zu entschärfen. Das hat über Jahrzehnte sehr gut funktioniert. Wirtschaftskontakte und der Austausch über Grenzen hinweg haben dazu geführt, dass sich die Menschen in einer Win-win-Situation fühlen. Das hat aber seinen Preis. Welchen? Natürlich bedeutet die Europäische Union, dass Staaten relativ viel an nationaler Selbstbestimmung und Souveränität abgeben müssen. Wenn einem dieser Preis zu hoch ist, wie einer Mehrheit der Briten seinerzeit, dann werden sie über die Konsequenzen des Austritts aus der EU einen anderen Preis zahlen. Es ist doch völlig klar, dass meine Stimme international viel mehr wiegt, wenn ich einer Gemeinschaft von 500 Millionen Menschen angehöre, als in einem Einzelstaat mit 60 Millionen Bürgern. Auch Staaten wie Polen oder Ungarn, machen zunehmend ihr eigenes Ding, weil sie sich von Europa zu sehr bevormundet fühlen… Und entsprechen derzeit nicht mehr den Werten der Rechtsstaatlichkeit der EU… Woran liegt das? Beide Staaten haben umfangreiche Erfahrung mit diktatorischer Gewalt, entweder des Nazi-Regimes oder hinterher Stalins und seiner Nachfolger. Wenn sie dann aus Brüssel Vorschriften gemacht bekommen, reagieren sie ablehnend. Bis zu einem gewissen Grad ist das nachvollziehbar. Das ändert aber nichts daran, dass das ein Problem für die EU ist. Macht der Vormarsch der Populisten und sich autoritär gebärdender Politiker Europa und die Welt unsicherer? Rechts- wie Linkspopulismus sind Formen der Rückkehr in kleinräumigere Ordnungen als jene der Globalisierung. Das hat wohl damit zu tun, dass die Menschen die Dinge und Möglichkeiten, die Sicherheit, die sie haben, inzwischen für selbstverständlich halten und nun noch etwas dazuhaben wollen. Sie denken aber wenig darüber nach, dass das, was sie dazuhaben wollen, das Erreichte gefährden könnte. Das ist das eigentlich Gefährliche an nationalen populistischen, rechtspopulistischen Bewegungen, zumal: International gehen sie Arm in Arm, solange sie ein gemeinsames Feindbild haben, Brüssel zum Beispiel, dagegen lässt sich trefflich polemisieren. Aber wenn sie dann untereinander etwas regeln müssen, wissen sie nicht so recht wie. Das ist wenig beruhigend. Haben Sie ein Beispiel? Denken Sie an Bundesinnenminister Seehofer und seinen rechtsextremen Amtskollegen in Italien, Salvini. Beide sondern sie immer wieder gern ihre Sottisen über Brüssel ab. Die Frage aber, wie mit ein paar Flüchtlingen an der Grenze umzugehen ist, wird dann plötzlich zu einem schweren Konflikt zwischen zwei Politikern. Wie gefährlich sind vor diesem Hintergrund die Möglichkeiten, die die Digitalisierung in sich birgt, zum Beispiel in Form von Cyberattacken und - war? Man greift einfach die Steuerungssysteme und Kommunikationssysteme vermeintlicher Gegner an, um sie zu beeinflussen, das ist eine Art Krieg in nicht letaler Form, also ohne kinetische Energie. Mit den heute existierenden technologischen Möglichkeiten entsteht etwas Drittes jenseits dessen, was wir klassisch Krieg und klassisch Frieden nennen. Und das ist sehr unangenehm, weil die binäre Ordnung eigentlich ganz wunderbar ist, mit ihr weiß man genau zu unterscheiden. Cyberangriffe, Terrorismus, Drohneneinsätze liefern drei wichtige Stichworte. Gilt da das Kriegsparadigma? Oder das Kriminalitätsparadigma? Die Amerikaner machen allerhand mit ihren Drohnen, töten Menschen in Somalia, im Jemen und in Teilen Pakistans, ohne dass sie diesen Ländern je den Krieg erklärt hätten; sie sind ja teilweise sogar verbündet. Dieses Dritte macht sich zunehmend breit und stellt viele der Kategorien, in denen wir Vorgänge bewerten, infrage. Weder haben wir einen Begriff noch eine Vorstellung davon, wie sich dieses Dritte regulieren lässt. Wie gefährlich ist dieses Mehr an Unordnung? Man könnte sagen: Ja gut, es sind halt Formen des Geltendmachens eines politischen Willens, die unblutig verlaufen, die einen Staat vielleicht mal zeitweise außer Betrieb setzen, aber im Unterschied zu den Folgen des Waffengengebrauchs wie zum Beispiel im Ersten Weltkrieg von einer gewissen Harmlosigkeit sind. Die Eintrittsschwelle wird niedriger, weil die Folgen überschaubarer sind. Beruhigend ist das aber nicht, zumal keiner weiß, ob es nicht doch zu einer Eskalation kommt. Welche Rolle spielen die USA bei der künftig wachsenden Unordnung? Die bisherige Ordnung war dadurch gekennzeichnet, dass es einen Hüter gab, der gewisse Grundprinzipien aufrechterhalten hat. Das waren die USA. Sie sind nun zu dem Ergebnis gekommen, dass das Hüten zu teuer ist und andere auf Kosten der USA zu viel daran verdienen. Die Amerikaner schauen jetzt vor allem auf den eigenen Nutzen, das ist das, was hinter America First steht. Was bedeutet das? Die Zeit für Europa als sicherheitspolitisches Mündel, das von der Couch zusieht, wie die Dinge laufen, ist vorbei. Wir sehen den Niedergang eines „ global cop″, eines Weltpolizisten. Im frühen 17. Jahrhundert, zur Zeit des 30-jährigen Krieges, erging es Spanien so, im späten 19., frühen 20. Jahrhundert war es das britische Empire. Komplexe Ordnungen kommen ohne Hüter aber nicht aus. Wer wird neuer Weltpolizist? Ich denke, es wird keinen Weltpolizisten mehr geben, weil andere Kandidaten nicht stark genug sind, diese Rolle zu spielen. Auch China nicht, es ist in jeder Hinsicht noch ein Schwellenland, das mit seinen inneren Problemen genug zu tun hat. Es wird also darauf hinauslaufen, dass wir anstatt einer globalen Ordnung mit einem Hüter eher ein System von fünf großen Mächten haben werden: USA, China, Russland, die EU und vielleicht Indien. Vor einiger Zeit hätten wir noch Brasilien sagen können, aber die haben sich in gewisser Hinsicht selbst aus dem Spiel genommen. Weil die Brasilianer einen Bewunderer der Militärdiktatur zum Präsidenten gewählt haben, der vor Gewalt als politischem Mittel nicht zurückschreckt? Jenseits der Frage von Krieg und Frieden sehen wir derzeit weltweit eine Bewegung, die überall autoritäre Figuren an die Spitze von Staaten bringt. Wächst damit die Gefahr neuer Kriege? Das ist eine besorgniserregende Entwicklung, ohne dass wir deshalb aber Panikattacken bekommen sollten. Und wo sehen Sie die größte Kriegsgefahr dieser Tage? Eine zentrale Gefahrenzone ist natürlich der Nahe Osten, da weiß man nie, welche Dynamik sich dort entwickelt. Mir machen aber auch die vielen kleinen Konflikte Sorgen, die sich ausweiten, manchmal merkt man das gar nicht, und dann ist plötzlich Krieg. Nehmen Sie das Beispiel des Krieges an den Großen Seen im subsaharischen Afrika. Der schwelt seit Jahrzehnten und ist um die Jahrtausendwende hochgekocht, es gab Millionen Tote. Heute gibt es dort viele Banden und Warlords, staatliche Strukturen funktionieren nicht wirklich, da kann es jederzeit wieder losgehen. Solchen Konflikten müssen wir künftig mehr Aufmerksamkeit widmen, denn sie können Flüchtlingsströme in großem Stil in Gang setzen. Und mit Blick auf Europa: Wie ernst ist die vermeintliche Bedrohung der baltischen Staaten durch Russland? Dort, und auch in Polen, ist man angesichts der Krim-Annexion durch Moskau alarmiert. Generell würde ich nicht sagen, dass solche Sorgen gänzlich unbegründet sind, aber solange die Länder Mitglieder in der Nato sind, wird Präsident Putin ihnen zwar unterhalb der Kriegsschwelle immer mal wieder Stress machen. Aber Russland würde ich nun nicht als den großen Gefährder hochstilisieren. Die Russen können zwar unangenehm sein, aber sie sind ziemlich rationale Akteure. Bildtexte: Wenn Frieden herrscht, wird Kriegsgerät zum Spielplatz: Kinder in Angola spielen auf einem Panzer, der einst auf eine Mine fuhr. Mit gut 350 Millionen Betroffenen war 2017 laut Unicef eines der schlimmsten Jahre für Kinder in Kriegs- und Krisengebieten. Oft ist der Schrecken der Vergangenheit bis in die Gegenwart spürbar, zum Beispiel auf ungeräumten Minenfeldern. Ernster Mahner: Herfried Münkler. Fotos: dpa/ Wolfgang Langenstrassen
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