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NUSO-Archiv - Umweltgeschichtliches Zeitungsarchiv für Osnabrück
Umweltgeschichtliches Zeitungsarchiv für Osnabrück
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Erscheinungsdatum:
aus Zeitung:
Überschrift:
Ort einer abrupt beendeten Kindheit
Zwischenüberschrift:
Warum es für ein Haus an der Osnabrücker Martinistraße ein Gedicht gibt
Artikel:
Kleinbild
Originaltext:
Poesie ist wohl kein Wort, das einem bei einem Spaziergang entlang der viel befahrenen Osnabrücker Martinistraße sofort in den Sinn kommt. Und doch wurde mindestens eines der Häuser mit einem Gedicht geehrt.

Osnabrück Die Martinistraße ist eine typische Ein-und Ausfallstraße für den täglichen Stadtverkehr: Wartezeiten an den Ampeln, zu schnelle Autofahrer und Unfälle prägen ihr Bild. Radfahrern wird geraten, lieber auf die ruhigeren Straßen des Katharinenviertels auszuweichen.

Den Häusern allerdings sieht man ihre oftmals gründerzeitliche Herkunft noch an. Dass es eines oder vielleicht sogar zwei von ihnen in einen Gedichtband geschafft haben, verwundert dennoch.

Verfasst hat das Gedicht Gershon Stein der allerdings nicht immer so hieß. Geboren wurde er 1920 in Osnabrück als Siegfried Stein. Er war ein Sohn des angesehen Osnabrücker Kaufmanns Gustav Stein. Dieser lebte in der Hausnummer 27 mit seiner Familie zur Miete und war Miteigentümer des Kaufhauses Wertheim; ein engagierter Bürger der Stadt und überzeugter Zionist. 1933, im Jahr der Machtübernahme der Nationalsozialisten, sorgte Stein dafür, dass gefährdete jüdische Familien nach Palästina auswandern konnten.

Im Dezember 1934 verließ sein erst 14-jähriger Sohn Siegfried Osnabrück, im Oktober 1935 folgten Vater Gustav, Mutter Helene und Siegfrieds Geschwister Erich und Mirjam. In Palästina angekommen, musste der angesehene Osnabrücker Geschäftsmann im Straßenbau arbeiten. Doch sie alle überlebten.

Gustavs Schwester Röschen Wertheim, die mit ihrer Familie fast direkt gegenüber der Familie Stein an der Martinistraße 28 wohnte, wurde hingegen 1941 nach Riga deportiert und später für tot erklärt.

Die Wohnung der Steins in der Nummer 27 war angemietet, das Haus Nummer 28 befand sich bis 1935 im Besitz der Familie ob Stein in seinem Gedicht nur eines der Häuser meinte oder beide, ist nicht bekannt. Vielleicht war das Haus an der Martinistraße″ ebenso eine Ode an die verlorene Kindheit wie die beiden Häuser, in denen sie stattfand.

Fest steht, dass beide Orte waren, von denen Siegfried Stein dachte, sie nie wiederzusehen. In Palästina änderte er wie viele der Geflüchteten seinen Namen, und aus Siegfried wurde Gershon. In den kommenden Jahrzehnten konzentrierte er sich auf sein neues Leben in einem neuen Land.

50 Jahre nach seiner Ausreise sollte Stein den Ort seiner Kindheit dann doch wiedersehen: Als ehemalige Osnabrücker Bürger 1984 von der Stadt eingeladen wurden, war auch Gershon Stein mit dabei und kam daraufhin jedes Jahr mit seiner Frau wieder, erinnert sich Martina Sellmeyer, die für das 1988 erschienene Buch Stationen auf dem Weg nach Auschwitz″ mit zahlreichen Zeitzeugen und Nachkommen der vertriebenen und ermordeten Osnabrücker Juden sprach so auch mit Stein.

Das Gedicht schrieb Stein angeregt durch seine Besuche hier in Osnabrück″, so Sellmeyer. Doch Stein besuchte nicht nur die Stadt, er wollte auch über die Zeit des aufkeimenden Nationalsozialismus in Osnabrück reden und tat dies regelmäßig in Schulen. Er selbst war einst ein Schüler des Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasiums, das damals noch Realgymnasium hieß und an der Lotter Straße 6 beheimatet war.

Er sagte mal, er hätte wohl inzwischen mehr Freunde in Deutschland als in Israel. Seine Besuche hat er daher generalstabsmäßig geplant, um all die vielen Termine unterzubringen″, erinnert sich Sellmeyer.

Seine Kindheit und Herkunft ließen Stein nicht mehr los: Er beantragte einen deutschen Pass, in Bad Laer verbrachte er zwölf Kuraufenthalte. 1996 erschien im Bramscher Rasch-Verlag ein Buch mit Gedichten über Osnabrück natürlich auf Deutsch.

1999 starb Gershon Stein in Israel an Knochenkrebs. Das Haus seiner Kindheit, selbstverständlich und hell″, steht noch. Es ist der Ort einer Kindheit, die bereits endete, als Stein noch ein Kind war.

Bildtexte:
Das Haus Nummer 27 an der Martinistraße.
Gershon Stein (1920–1999 ) bei einem Besuch des Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasiums im Mai 1996.
Am 23. Oktober 1935 verließ Gustav Stein Osnabrück für immer und ging nach Palästina. Sohn Erich, Ehefrau Helene und Töchterchen Mirjam (von links) kamen mit. Sohn Siegfried (später: Gershon) war schon am Ende des Vorjahres ausgereist.Quelle: Stationen auf dem Weg nach Auschwitz
Das Haus Martinistraße 28.
Fotos:
Corinna Berghahn, Jörn Martens

Haus an der Martinistraße

Ein Haus Insel der Kindheit
Im Meer des Vergessens
Allen Stürmen der Jahre
Zum Trotz aber auch zum Trost.
Graugestrichenes Haus
Trauter Weisen heimliche Spieluhr
Einst vom Aufwachen dort am Morgen
In eine Welt, selbstverständlich und hell.
Am Haus der Garten einsame Zuflucht
Und zweisames Spiel mit den Gesichtern des Jahres
Hegte einst Flieder und Jasmin
Doch manchmal auch Träume und Tränen.
Vorm Haus die Straße, stets neu und dennoch vertraut
Wachsende Welt mit dem Kinde
Durchklungen vom Treiben der Stadt
Und vom Jubel spielender Kinder.
Haus am Ufer der Straße, gerade und strömend
Vom Herzen der Stadt bis ins Freie
Ins Freie? Gab denn je die Stadt einen frei
Nur weil er überschritt ihre Grenzen?
Haus nicht nur im Einst″
Klingt doch von dort immer noch, leise und liebend
Erinnerungsträchtige Melodie.

Gershon Stein

Autor:
Corinna Berghahn
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