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NUSO-Archiv - Umweltgeschichtliches Zeitungsarchiv für Osnabrück
Umweltgeschichtliches Zeitungsarchiv für Osnabrück
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Erscheinungsdatum:
aus Zeitung:
Überschrift:
Stolpersteine für eine Familie, die überlebte
Zwischenüberschrift:
Stadt Osnabrück weicht Kriterien für Verlegung auf / Ausnahme, um Wunsch der Nachfahren zu erfüllen
Artikel:
Kleinbild
Originaltext:
Zum ersten Mal werden in Osnabrück Stolpersteine für eine Familie verlegt, die den Holocaust überlebte. Die Meyers flohen vor dem Naziterror nach Argentinien. Ihre Nachfahren wünschten sich die in Stein gemeißelte Erinnerung. Die Stadt kam der Bitte nach und weicht damit von ihrer Linie ab.

Osnabrück Carl Meyer reiste in die Ungewissheit. Im Dezember 1936 packte er seine Koffer, stieg in den Zug und überquerte mit einem Dampfer den Atlantik in Richtung Südamerika. Er hatte niemanden bei sich, nur die Hoffnung: Dass seine Frau und seine beiden Töchter würden nachkommen können.

11000 Kilometer trennten den 40-Jährigen nach seiner Ankunft im argentinischen Basavilbaso von seiner Familie in Osnabrück der Heimatstadt, wo Nazis Juden das Leben immer schwerer machten. Die Meyers waren Juden. Sie bekamen die zunehmenden Drangsalierungen am eigenen Leib zu spüren. Ein Jahr sollte es dauern, bis Clara Meyer ihrem Mann gemeinsam mit den beiden Kindern Helga und Ingeborg folgen können sollte. Mit welchen Gefühlen sie Familie und Freunden Lebewohl sagten und dem Kontinent den Rücken kehrten, lässt sich nur erahnen.

Ohne die mutige Entscheidung unserer Urgroßeltern hätte es uns vermutlich nie gegeben″, sagt Ronny Reinberg. Wir verdanken ihr unser Leben.″ Der Urenkel Carls und Claras ist gemeinsam mit seinem Vater Raul Reinberg (Sohn von Helga Meyer), seiner Mutter, seiner Frau, seinen Kindern, zwei Cousins und ihren Kindern nach Osnabrück gekommen. Sie sind aus Israel angereist, um dabei zu sein, wenn die Stadt dieser lebensrettenden Entscheidung vier zehn mal zehn Zentimeter große Denkmäler aus Messing und Beton setzt. Vier Stolpersteine: für Carl und Clara, Ingeborg und Helga Meyer.

Unterschlupf in Kaufhaus

Nun versammeln sich die Enkel, Urenkel und Ururenkel vor dem Haus in der Krahnstraße 1–2. Bis vor Kurzem beherbergte das prachtvolle Sandsteingebäude das Drei-Sterne-Restaurant La Vie. In den 1930er-Jahren befand sich dort das jüdische Kaufhaus Samson David. Es bot den Meyers 1935 Unterschlupf, als ihr Vermieter sie aus der alten Wohnung geworfen hatte weil sie Juden waren. In dem Haus blieben sie, bis sie Deutschland verließen. Stolpersteine sollen vor dem letzten freiwillig gewählten Wohnort der Menschen liegen, an die sie erinnern, so hat es der Künstler und Stolperstein-Erfinder Gunter Demnig vorgesehen. Und so hält es auch die Stadt Osnabrück.

Raul Reinberg fällt vor den vier Steinen auf die Knie. Er streicht mit der Hand über die Gravuren in der Messingfläche und küsst sie. Als die Biografie seiner Familie verlesen wird, filmt der Sohn von Helga Meyer die Reihen der Besucher in der Krahnstraße, die der Verlegung beiwohnen. Den Moment will er festhalten. Vor 82 Jahren verließ meine liebe Mutter mit ihrer kleinen Familie Osnabrück und entkam nach Argentinien″, sagt Ronny auf Englisch im Namen seines Vaters. Die Verlegung der Stolpersteine im Gedenken an meine Familie werde ich nie vergessen, und ich bin sehr dankbar.″

Zwei Straßenarbeiter schaben das quadratische Loch für die Steine noch etwas tiefer, sie fügen die Betonquader ein, füllen die Fugen und polieren die Gravur. Mit den vier Messingplatten für Familie Meyer liegen im Osnabrücker Stadtgebiet nun 290 Stolpersteine. Erstmalig ließ die Stadt dort in der Krahnstraße Steine in den Boden setzen, mit denen ausschließlich Überlebender der Naziverfolgung gedacht wird.

Normalerweise verlegt die Stadt Steine nur für Todesopfer des NS-Regimes. Einen einzigen Fall hat es bisher gegeben, in dem sie von dieser Linie abwich. Eine Familie, die durch den Tod getrennt worden war, führte die Stadt symbolisch mit Stolpersteinen wieder zusammen. Dem Anwalt Ernst Jacobson war es nicht gelungen, dem Naziterror zu entkommen. Er starb 1938 in Osnabrück. Die Namen seiner Frau und seiner beiden Kinder wurden ebenfalls in Stolpersteine eingeprägt die drei waren rechtzeitig in die USA geflohen.

Auch die Meyers überlebten den Holocaust, aber waren sie nicht dennoch Opfer? Hatten sie nicht alles aufgeben müssen? Hatten sie nicht eine dauerhafte Erinnerung in ihrer Heimatstadt verdient, aus der sie hatten fliehen müssen, damit ihre Kindeskinder eine Zukunft würden haben können? Zu dieser Sichtweise gelangte der Osnabrücker Initiativkreis, der über die Verlegung neuer Steine berät. Es wäre ein Affront gewesen, den Wunsch der Angehörigen abzulehnen″, sagt Christine Grewe vom Büro für Friedenskultur. Sich in diesem Fall als deutscher Prinzipienreiter zu präsentieren wäre vollkommen unangebracht gewesen.″ Trotzdem solle es eine Ausnahme bleiben, dass für Überlebende Stolpersteine gefertigt würden.

In Argentinien sprachen Carl und Clara Meyer nur wenig über ihre deutsche Vergangenheit. Auch ihre Töchter Ingeborg und Helga lebten lieber im Hier und Jetzt, statt von der Nazizeit zu erzählen. Dass die Reinbergs heute so viel über ihre Osnabrücker Wurzeln wissen, verdanken sie nicht zuletzt Dieter Przygode.

In Bramsche lebend, begann der geschichtsinteressierte Angestellte der Stadt Osnabrück, in Archiven das jüdische Leben in seiner Stadt zu erforschen. In einem Buch schildert er das Schicksal der jüdischen Familie Voss aus Bramsche, die 1937 nach Argentinien auswanderte. Ida Voss war eine Schwester von Carl Meyer. Für seine Recherchen nahm Przygode Kontakt zu Raul Reinberg auf. Przygode traf ihn in Israel und wurde zu einem Freund der Meyer-Ahnen.

Neues Familienmitglied

Dieter gehört inzwischen zu unserer Familie. Durch seine Arbeit haben wir mehr über Carl Meyer und sein Engagement für die jüdische Gemeinschaft in Osnabrück erfahren″, sagt Ronny Reinberg in seiner Ansprache. Przygode fand heraus: Carl Meyer hatte als junger Kaufmann bei der Delikatessengroßhandlung Julius Cantor in Osnabrück gearbeitet. Seine Freizeit hatte er dem Sport gewidmet, speziell der Fußball hatte es ihm angetan. Nachdem er vom antisemitischen Vorsitzenden des OTV aus dem Verein gedrängt worden war, gründete Carl Meyer 1924 den Jüdischen Sportverein Osnabrück″. Er gab begeisterten Sportlern eine Heimat, die ein ähnliches Schicksal erlitten hatten.

Als deutschlandweit jüdische Geschäfte boykottiert wurden, verlor Carl Meyer seinen Job. Seine Töchter mussten die evangelische Schule in Eversburg verlassen und auf eine jüdische Schule wechseln. Bevor Carl Meyer nach Argentinien auswanderte, ließ er sich in Brandenburg vier Wochen lang auf das harte Leben als Landwirt in einer jüdischen Kolonie in Argentinien vorbereiten. Siedler bekamen dort eine Parzelle Land, Vieh und Arbeitsgeräte, um sie zu bewirten. Mitte der 1950er-Jahre zogen die Meyers nach Buenos Aires. Dort starb Carl Meyer am 23. Mai 1956, nachdem er schon vorher mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatte. 14 Jahre später starb auch seine Tochter Inge, sie war verheiratet, aber kinderlos geblieben. Ihre Schwester Helga wanderte ebenso wie ihre beiden Söhne Raul und Daniel nach Israel aus. Ihre Mutter Clara Meyer starb im März 1976 während eines Besuchs in Israel. Helga Reinberg, die jüngste der vier Osnabrücker Auswanderer, starb im Juni 1994, sieben Jahre, nachdem sie ihre Geburtsstadt ein erstes und einziges Mal gemeinsam mit ihrem Sohn Raul wieder besucht hatte. Meine Mutter war 13, als sie Osnabrück verlassen musste. Als sie vor ihrem alten Haus stand, fühlte es sich für sie an, wie nach Hause zu kommen″, sagt Raul.

Die Familie habe nie einen Groll gegen die Osnabrücker Bevölkerung gehegt. Wohl aber gegen die Partei und all ihre Anhänger, die den Judenhass schürten. Durch die Flucht war es den Meyers gelungen, der Vernichtung zu entgehen. Doch längst nicht alle Verwandten hatten dieses Glück. Carl Meyer verlor seinen Vater, eine Schwester, einen Bruder und deren junge Familien. Sie wurden in Konzentrationslagern umgebracht. Das jüngste Kind war drei Jahre alt. In Badbergen, der Geburtsstadt von Carl Meyer, erinnern zehn Stolpersteine an sie.

Bildtexte:
Osnabrücks Oberbürgermeister Wolfgang Griesert sprach vor dem ehemaligen La Vie, wo die Stolpersteine für Familie Meyer in den Boden gesetzt wurden.
Ronny Reinberg (Mitte) dankte der Stadt im Namen seines Vaters Raul (mit Hut) für die Verlegung der Stolpersteine. Das werde ich nie vergessen.″
Das Sandsteingebäude in der Krahnstraße beherbergte früher das jüdische Kaufhaus Samson David. Dort fanden die Meyers einst Unterschlupf.
Autor:
Meike Baars


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