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NUSO-Archiv - Umweltgeschichtliches Zeitungsarchiv für Osnabrück
Umweltgeschichtliches Zeitungsarchiv für Osnabrück
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Erscheinungsdatum:
aus Zeitung:
Überschrift:
NOZ-Bericht über verlassenes Haus in Osnabrück schlägt Wellen in Israel
 
Enkel gibt ermordeten Großeltern ein Gesicht
Zwischenüberschrift:
Guri Palter aus Israel besucht mit seiner Frau erstmals das Haus seiner Vorfahren an der Herderstraße in Osnabrück
Artikel:
Kleinbild
 
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Originaltext:
Auf Spurensuche in Osnabrück: Aufgrund unserer Berichterstattung vom 9. November ist der Enkel des ehemaligen jüdischen Unternehmerpaars Flatauer erstmals nach Osnabrück gekommen. Bislang kannte er weder das Haus an der Herderstraße 22 noch die Osnabrücker Vergangenheit seines Vaters, der dort aufwuchs und seine Kindheit verbrachte. Mit in seinem Gepäck hatte Guri Palter das alte Fotoalbum seines Vaters. Der 79-Jährige hat das Buch nun mit nach Osnabrück gebracht und gibt seinen Großeltern damit ein Gesicht. Denn das Album zeigt Bilder einer unbeschwerten Zeit in den 1920er-Jahren mit Schnappschüssen der Familie in Osnabrück, Urlauben an der See und Ausflügen in Orte der Region. Die Fotos der Familie galten bisher als verschollen.

Die bewegte Geschichte des verlassenen Hauses an der Herderstraße in Osnabrück ist noch lange nicht zu Ende erzählt. Die Nachfahren der jüdischen Familie Flatauer haben jetzt ein neues Kapitel aufgeschlagen.

Osnabrück. Es ist ein grauer Dezembermorgen, als der Besuch aus Israel sich auf den Weg macht, um ein Stück seiner bisher unbekannten Vergangenheit in Osnabrück kennenzulernen. Die Anspannung ist spürbar. Als Guri Palter vor dem Haus seiner Großeltern an der Herderstraße steht, sieht er die Stolpersteine. Er geht auf die Knie. Tränen steigen ihm in die Augen. Später wird er sagen, dass er in diesem Moment traurig, aber auch zufrieden war, denn er hat endlich etwas über seine Familiengeschichte erfahren. Etwas, das ihm vorher nicht bekannt war.

Doch von Anfang an: Vor genau einem Monat erschien die Geschichte unserer Redaktion über ein seit Jahren leer stehendes Haus an der Herderstraße 22 in Osnabrück. In den 1920er-Jahren hatte es das jüdische Ehepaar Raphael und Alma Flatauer erbaut. In der NS-Zeit musste das Paar das Prachtanwesen im Bauhaus-Stil verlassen und für einen Spottpreis verkaufen. Seine heutige Besitzerin ist eine Nachfahrin der damaligen Käufer. Das einst wertvolle Haus lässt sie verfallen.

Weder in den Archiven in Berlin und Hannover noch im Landesarchiv in Osnabrück oder in den Fotoarchiven der Stadt fand sich Bildmaterial der Familie Flatauer für unsere Geschichte. Die einstigen Erbauer der Villa würden für immer ohne Gesicht bleiben so dachten wir. Doch es kam anders. Denn es gibt noch Fotos von Raphael und Alma Flatauer und die sind nun aufgetaucht mitsamt ihren Besitzern aus Israel.

Guri und seine Frau Aviva Palter wurden erst durch den Artikel in unserer Zeitung über das verlassene Haus auf die vergessenen Orte ihrer Familiengeschichte in Osnabrück aufmerksam. Der 79-Jährige und seine 75-jährige Frau überlegten nicht lange: Wir kommen vorbei″, schrieben sie kurz entschlossen per E-Mail. Kaum eine Woche später sind sie in Osnabrück. Es ist ihr erster Besuch in der Friedensstadt. Dort, wo Guri Palters Vater Kurt Flatauer 1912 geboren und seine Großeltern Alma und Raphael die große weiße Villa an der Herderstraße erbauen ließen.

Guri Palter kam in Israel zur Welt. Sein Vater Kurt verließ Osnabrück 1934. Palästina war seitdem seine Heimat. Er baute sich dort im Kibbuz Givat Brenner ein neues Leben auf. Aus dem reichen Kaufmannssohn wurde erst ein Mechaniker und später der Busfahrer der jüdischen Siedlung, der dort bescheiden mit Frau und drei Söhnen lebte.

Während des israelischen Unabhängigkeitskrieges änderte er seinen Nachnamen. Er hieß nun Palter und nicht mehr Flatauer. Sein Bruder Hans floh 1938 nach Großbritannien. Mein Vater Kurt hat uns von seinem Leben in Osnabrück nie viel erzählt. Er habe in einem Geschäft mitgearbeitet, seiner Familie ging es finanziell gut, mehr wussten wir nicht″, sagt Guri Palter. Die Palters leben in der Nähe von Tel Aviv. Nun sind sie gespannt auf ihre Eindrücke in Osnabrück. Wir wollen einfach sehen, wie mein Vater Kurt, sein Bruder Hans und meine Großeltern einst lebten.″ Als sie vor dem Haus in der Herderstraße 22 stehen, sind sie sprachlos. Nicht nur, weil das Haus in einem schlechten Zustand ist, sondern auch, weil es so groß ist. Im Kibbuz lebten wir in einer 50-Quadratmeter-Wohnung.″

Mein Vater fing in Palästina ein neues Leben an″, erzählt Guri Palter weiter. Eines, in dem keine Zeit war, sich an Vergangenes zu erinnern oder ausgiebig mit seinen Kindern darüber zu sprechen, vermutet Guris Ehefrau Aviva. An eine frühe Anekdote aus dem Kibbuz können sich die beiden allerdings erinnern: Zur Hochzeit von Kurt und seiner Frau Lucie einer ebenfalls aus Deutschland stammenden Jüdin kamen auch Raphael und Alma Flatauer. 1935 war das, damals durften sie noch aus Deutschland ausreisen. Meine Schwiegereltern waren sehr stolz: Sie hatten eines der größten Zelte festlich geschmückt, zeigten der deutschen Verwandtschaft, was sie schon alles erreicht hatten. Und Alma? Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen: Hier lebt ihr? In einem Zelt in der Wüste?′, soll sie gerufen haben″, sagt Aviva Palter und lacht.

Inzwischen hat sie eine Vorstellung vom einst luxuriösen Leben der Flatauers und kann die Reaktion der schockierten Alma Flatauer verstehen. Kurt war ein reicher, vielleicht auch verwöhnter Junge. Der Familie gehörte dieses große Haus, sie war angesehen in ihrer deutschen Heimat, ihr gehörten Geschäfte, Immobilien und sogar der Anteil an einem Tennisplatz. Und dann heiratet der Sohn in einem Zelt im Nirgendwo! Jetzt verstehe ich, warum sie Osnabrück nicht verlassen wollten.″

Sein Vater Kurt hätte seine Eltern sicher gerne nach Palästina geholt, vermutet Guri Palter. Doch das sei zu dem Zeitpunkt vollkommen undenkbar für das Ehepaar gewesen″, sagt er. Die beiden waren Deutsche, hatten in Osnabrück ihre Heimat, ihr Leben, ihre Geschäfte, ihre Angestellten. Dass sie all dessen und sogar ihres Lebens nur wenige Jahre später von ihren Mitbürgern beraubt werden sollten: Das war für sie zu diesem Zeitpunkt noch unvorstellbar.

Wie vornehm das Leben der Familie Flatauer war, zeigt ein Fotoalbum, das Guri Palter erst nach dem Tod seines Vaters Kurt fand. Dass dieser in Deutschland der Spross einer reichen Unternehmerfamilie war, ahnt Guri Palter beim Durchblättern des Albums zum allerersten Mal. Viele der Bilder hat vermutlich Kurt selbst gemacht: Mein Vater hat schon immer sehr gerne fotografiert, sogar bis ins hohe Alter, da war er schon über 80 Jahre alt″, erzählt Guri Palter.

Das Album zeigt Aufnahmen aus einer unbeschwerten Zeit in den 1920er-Jahren, viele sind beschriftet. Wahrscheinlich von Alma″, glaubt Aviva Palter. Die Familie verbrachte Urlaube an der See, einige Bilder wurden auf Norderney aufgenommen. Auch Momente von Ausflügen nach Köln, Hannover, Düsseldorf, Berlin und immer wieder in die Kurorte der Region sind festgehalten. Wo genau viele der Bilder entstanden sind, kann Guri Palter meist nur erahnen. Das Album zeigt auch die beiden Brüder Kurt und Hans stolz im Auto der Familie sitzend und ihre Mutter Alma beim Aufschlag auf dem Tennisplatz.

Bei ihrem Besuch in Osnabrück schauen sich Guri und Aviva Palter die Orte an, die in der Geschichte ihrer Familie eine Rolle spielten. Das Haus an der Herderstraße natürlich, das in der Reichspogromnacht am 9. November 1938 von der SA verwüstet worden war, während Frauen und Kinder der jüdischen Familien aus dem Katharinenviertel verängstigt in der Küche gesessen hatten.

Doch es gibt noch andere Orte, wie beispielsweise das Stüvehaus, in dem heute die Volkshochschule Osnabrück untergebracht ist. Früher befand sich in dem Gebäude ein Krankenhaus. 1933 wurde Kurt dort behandelt, nachdem er in der Villa Schlikker, der damaligen Parteizentrale der NSDAP in Osnabrück, halb totgeprügelt worden war. Hier wurde mein Vater eingeliefert? Das wusste ich nicht. Das höre ich heute zum ersten Mal″, sagt der 79-Jährige Guri Palter und macht Bilder von dem Gebäude. Fotos sind wichtig. Mein Vater lebt nicht mehr, aber die Bilder aus dem Album erzählen von seiner Geschichte. Deswegen mache ich auch so viele Bilder.″

Kurz vor ihrer Abreise schauen sie sich vom Nachbargrundstück aus den Garten der Villa an. Das Grundstück ist verwildert, Müll liegt herum. Ein trauriger Anblick. Wirklich sehr schade, dass das Haus so verkommt″, sagt der Enkel der einstigen Besitzer.

Die Bauzeichnungen des damaligen Osnabrücker Architekten Otto Schneider aus dem Bauamt der Stadt dürfen die Palters nicht einsehen. Mit ihnen hätten sie wenigstens einen Blick auf die damalige Optik werfen können . Die Palters fliegen ohne die Zeichnungen zurück nach Israel. Es sieht so aus, als dürfe Guri Palter nie erfahren, wie das Haus, in dem sein Vater seine Kindheit verbrachte, einmal ausgesehen hat.

Doch drei Tage nach Abreise der Palters meldet sich das Niedersächsische Landesamt für Denkmalpflege aus Hannover auf Anfrage unserer Redaktion und gibt die Bauzeichnungen von 1929 frei. Die Palters bekommen die Dokumente nun für ihr Familienarchiv geschickt.

Nachbar Hartmut Böhm setzt sich zusammen mit dem Bürgerverein Katharinenviertel weiterhin für den Erhalt des Hauses ein. Er hat nun eine Petition gestartet, um dem Haus Denkmalschutz zu verleihen. Doch das scheint schwierig, weil der Bauhaus-Stil im Laufe der Jahre unter den neuen Besitzern des Hauses durch Umbauten immer mehr verloren ging. Böhm lässt dieses Argument nicht gelten, denn es gebe vier Kriterien, nach denen ein Haus unter Denkmalschutz gestellt werden könnte. Das sind: geschichtliche, künstlerische, wissenschaftliche Kriterien oder die städtebauliche Bedeutung. Doch auch das Landesamt für Denkmalpflege in Hannover sieht schwarz: Schutzgut ist nur selten die Geschichte der Personen, die darin gelebt haben, sondern das Gebäude mit seinen überdurchschnittlichen materiellen Merkmalen″, sagt Reiner Zittlau von der Behörde.

Auch über die Besitzerin wird es vermutlich keine Rettung für das Haus geben: Oberbürgermeister Wolfgang Griesert hat sie persönlich in ihrem Haus angetroffen und mit ihr gesprochen. Damit scheint der Oberbürgermeister mehr Glück gehabt zu haben als Verwandte, Nachbarn und Kaufinteressierte, die es seit Jahren versuchen. Sie möchte sich aber zu allem nicht äußern, sagt Gerhard Meyering vom Presseamt der Stadt auf Anfrage unserer Redaktion.

Die ersten Unterzeichner hat Böhms Petition schon: Guri und Aviva Palter. Es war ein besonderes Haus″, sagt sie. Es wäre schade, wenn es weiter verfällt oder irgendwann zu einem reinen Spekulationsobjekt werden würde.″

Weitere Bilder und ein Video zur Geschichte finden Sie im Internet unter noz.de

Bildtexte:
Unbeschwerte Tage: Alma (hinten Mitte), Kurt, Hans und Raphael mit einer Freundin der Familie auf Norderney.

Die Bauzeichnung von 1929 des Architekten Otto Schneider lässt erahnen, wie das Haus einmal ausgesehen haben muss.Zeichnung: Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege

Das heute leer stehende Haus in der Herderstraße 22 verkommt immer mehr.

Blick in die Vergangenheit: Guri Palter und seine Frau Aviva zeigen ein Fotoalbum mit dem Bild von Raphael und Alma Flatauer ganz in Weiß im Strandkorb.

Fotos:
Palter, Gert Westdörp
Autor:
Corinna Berghahn, Kathrin Pohlmann
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