Originaltext:
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Osnabrück. Das leere Haus an der Herderstraße erzählt eine Geschichte, die von Moderne, Vertreibung und Verwahrlosung handelt. Und von zwei Menschen, die dort einmal mit ihren Söhnen lebten und dann ermordet wurden. Es steht ein Haus in Osnabrück, das erzählt eine Geschichte. Eine Geschichte, die von Moderne, Vertreibung und Verwahrlosung handelt. Und von zwei Menschen, die hier einmal mit ihren Söhnen lebten, aber an die kaum noch etwas erinnert. Sie war einmal schneeweiß, aber sie ist in die Jahre gekommen. Mittlerweile ist die große leere Villa an der Herderstraße 22 ergraut. Doch Grau ist nicht die einzige Farbe, die sich an ihren feuchten Wänden zeigt: Die Front ist bunt beschmiert, einige Fenster sind eingeschlagen, Glassplitter ragen wie Dornen aus den Fensterrahmen. Die heruntergelassenen Rollläden hängen zum Teil schief aus der Verankerung und erwecken den Eindruck, jemand habe versucht, sie herauszubrechen. Nein, ein so marodes Haus wie dieses erwartet man sicher nicht in der Herderstraße, inmitten einer der besten und teuersten Wohnlagen Osnabrücks, dem Katharinenviertel. Und doch steht es da, in dieser Straße voller gründerzeitlicher Häuser, wie ein fauler Zahn in einem ansonsten makellosen Gebiss. Wer hat dieses Haus so verkommen lassen? Zettel an der Eingangstür und zwei Stolpersteine erinnern an das jüdische Ehepaar Raphael und Alma Flatauer. Die Eheleute wohnten einst in der Herderstraße 22. Und Recherchen zeigen, dass die Villa und ihre Geschichte exemplarisch sind für die damalige Zeit. Doch von vorne: Die Flatauers kauften das Grundstück im März 1929 von dem Tischlermeister Heinrich Grunge, wie den Grundbuchakten zu entnehmen ist. Auch Raphaels Bruder Siegfried kaufte sich in der Herderstraße ein Grundstück – die Nummer 3. Den Flatauers gefiel offensichtlich der Bauhaus- und Art-déco-Stil. Sie beauftragten den Osnabrücker Architekten Otto Schneider, der für modernes Bauen bekannt war. Doch in einer Stadt wie Osnabrück war das nicht so einfach. „ Osnabrück war damals noch nicht so weit″, sagt Sebastian Weitkamp, Historiker für Neueste Geschichte an der Uni Osnabrück. Schneider beantragte für Siegfried im Juni 1926 und für Raphael Flatauer 1929 einen Bauantrag. 1926 entbrannte ein heftiger Streit über das im Bauplan vorgesehene Flachdach – ein typisches Merkmal für den Bauhausstil. Wie ein Zeitungsartikel aus der Zeit erzählt, musste die Baustelle aus diesem Grund sogar für einige Zeit stillgelegt werden. Drei Jahre später waren die Behörden offensichtlich ein wenig gelassener und genehmigten Raphael Flatauer den Bau an der Herderstraße 22. Doch nach wie vor galt das fehlende Spitzdach als „ undeutsch″ und wurde als orientalisch bezeichnet. Auch die ehemalige Privatklinik für Frauen an der Herderstraße Nummer 8 wurde im ähnlichen Stil von Schneider erbaut. Zurück zur Nummer 22. Dort musste der moderne Stil nach und nach weichen: Das Flachdach wurde 1955 zu einem Satteldach aufgestockt, ein ganzes Stockwerk daraufgesetzt. Die Rundbogenfenster, von denen ein langjähriger Nachbar des Hauses schwärmt, sind durch Dutzendware aus dem Baumarkt ersetzt worden. Die Umbauarbeiten seien auch der Grund, warum das Haus nicht unter Denkmalschutz steht, erklärt Wiebke Dreeßen vom Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege auf Nachfrage. „ Auch im Inneren sind Umbauten erfolgt. Vonseiten des Niedersächsischen Landesamtes für Denkmalpflege wird daher derzeit keine erneute Überprüfung vorgenommen.″ Heute lassen allein die Haustür und die bunte Fensterfront noch erahnen, wie dieses Haus einmal ausgesehen haben muss: prachtvoll, modern und doch nüchtern. Die Villa von innen„ Wenn morgens die Sonne durch die Fenster schien, wurde das Treppenhaus in ein Meer aus Farben getaucht″, erinnert sich die ehemalige Mieterin Rosemarie Mayr. Zusammen mit ihrem Mann Leo und den damals zwei kleinen Kindern wohnte sie von 1977 bis 1981 in der Herderstraße 22. „ Es war ein tolles Haus, besonders der Eingangsbereich mit dem hochherrschaftlichen Treppenhaus. Auch der Garten, den wir über die breite Verandatreppe aus unserer Wohnung im Hochparterre betreten konnten, war ein Traum.″ Ursprünglich, so ist sie sich sicher, war das Haus aber nie für Vermietungen geplant: „ Dazu waren die Zimmer, teilweise mit breiten Flügeltüren, zu großzügig. Und im sehr großen Wohnzimmer war ein repräsentativer Zimmerspringbrunnen in die Wand eingelassen. Nein, das war das Haus, das sich eine wohlhabende Familie in den 1920er-Jahren als Residenz gebaut hat. Unten wurde empfangen, oben gewohnt, und im Keller war der Dienstbotentrakt – mit Eingangstür, die von einem Fenster in der Küche gut einsehbar war.″ Seit vielen Jahren leer Auch ein weiterer Mieter, der nach Mayr fast zehn Jahre in dem Haus lebte und nicht namentlich erwähnt werden möchte, war von dem Haus begeistert. „ Es muss einmal ein wahrer Prachtbau gewesen sein. Aber schon damals, als ich Mitte der 1980er-Jahre einzog, war es das nicht mehr.″ Denn die Besitzerin des Hauses kümmerte sich, so sein Eindruck, nur äußerst lieblos um das Gebäude. „ Was Bauhaus war, verschwand. Stattdessen wurden an allen möglichen und unmöglichen Stellen Nasszellen eingebaut oder minderwertige Teppichböden auf das Fischgrätparkett aus den 1920er-Jahren gelegt. Auch Ausbesserungen an der Elektrik wurden eher so nebenbei vorgenommen. An den Stromkästen im Keller standen beispielsweise immer noch die ursprünglichen Bezeichnungen wie etwa , Herrenzimmer′″, erzählt er. „ Teilweise entstanden so abenteuerliche Konstruktionen, Verschlimmbesserungen eigentlich.″ Seit rund 20 Jahren steht das Haus nun leer. „ Damals zogen die letzten Mieter aus″, erzählt Nachbar Hartmut Böhm. Dabei müsste das gar nicht sein, sagt er: „ Mindestens einmal im Monat klingelt ein Kaufinteressent bei uns an der Tür und fragt nach einem Kontakt zur Hausbesitzerin. Aber die geht nicht einmal ans Telefon, hat man mir erzählt.″ Tatsächlich ist die Immobilie bei den Maklern in der Stadt bekannt. Egal, wen man befragt: Jeder hat schon einmal versucht, Kontakt zur Besitzerin aufzunehmen – vergeblich. Der Wert des gesamten Hauses lässt sich ohne Begehung zwar nicht bestimmen, doch allein das 800 Quadratmeter große Grundstück ist viel wert, wie eine Nachfrage beim Katasteramt Osnabrück ergibt: „ 300 Euro pro Quadratmeter gelten in dieser Lage als Richtwert″, so eine Mitarbeiterin. Das ergibt also einen Preis von 240 000 Euro. Mindestens. Doch wie kam die nun so schwer zu erreichende Frau überhaupt in den Besitz des Hauses, und was wurde aus den Flatauers? Raphael Flatauer und sein Bruder Siegfried waren Unternehmer in Osnabrück. Sie betrieben die Tuchgroßhandlung „ Flatauer und Co. KG″ in der Möserstraße 26 und die „ Großgarage Osnabrück-West″ in der Adolfstraße 60/ 62. Darüber hinaus besaßen sie drei Häuser in der Großen Straße, Nummer 27 bis 29, die 1938 an L& T verkauft wurden, sowie weitere Ländereien. Gebürtig stammten Raphael und seine Frau Alma aus Westpreußen, ihre Söhne Kurt und Hans waren hingegen Kinder der Hasestadt, Kurt wurde 1912, Hans 1915 in Osnabrück geboren. 1929, im Jahr der Weltwirtschaftskrise, schien es dem Ehepaar Flatauer finanziell gut zu gehen: Sonst hätten sie das Haus wohl kaum erbauen lassen. Bis zu ihrer Vertreibung lebten im Katharinenviertel viele Juden. In der Nachbarschaft befand sich nicht nur die Synagoge an der Rolandstraße, sondern auch der jüdische Tennisplatz am Uhlenfluchtweg, dessen Miteigentümer die Gebrüder Flatauer ebenfalls waren. Die Gründung des Tennisclubs im Jahr 1924 war eine Reaktion auf den Rausschmiss aller jüdischen Vereinsmitglieder aus dem örtlichen Verein. Konnten die jüdischen Bürger dem wachsenden Antisemitismus so in den 1920er-Jahren noch etwas entgegensetzen, war es spätestens mit der Machtübernahme der Nazis im Januar 1933 vorbei. Almas und Raphaels Sohn Kurt wurde in dem Jahr in der Villa Schlikker halb tot geprügelt. Die damals als „ Braunes Haus″ bezeichnete Villa war der Parteisitz der Nationalsozialisten in Osnabrück. Kurt verließ daraufhin seine Heimat und wanderte nach Palästina aus. Sein Bruder Hans blieb noch bis 1939 in Deutschland und schaffte es, im Januar nach London zu emigrieren. Von den Ereignissen der Pogromnacht am 9. November 1938 waren die Flatauers und ihr Haus an der Herderstraße direkt betroffen. In dem Buch „ Topografie des Terrors″ ist zu lesen, dass ein schreiender und grölender Mob Steine nach jüdischen Frauen warf, die sich gerade aus einem brennenden Haus in der Rolandstraße retteten. „ Unter Bewachung von betrunkenen NS-Funktionären wurden die Frauen dann in der völlig verwüsteten Wohnung der Familie Flatauer in der Herderstraße zwischen Scherben und zertrümmerten Möbelstücken eingesperrt.″ Dort mussten Frauen und Kinder mit ansehen, wie antisemitische Nachbarn in das Haus eindrangen und Möbel kurz und klein schlugen, heißt es dazu in „ Stationen auf dem Weg nach Auschwitz″, dem Standardwerk über die Judenverfolgung in Osnabrück. Flucht scheitert Das Haus wurde in der Nacht verwüstet, dem Hausherren erging es nicht besser: Während die Synagoge brannte, wurde Raphael Flatauer erst verprügelt, dann in sogenannte Schutzhaft genommen, kurz freigelassen und daraufhin wieder in den Gestapo-Keller im Schloss gebracht. Zeitgleich plünderten die marodierenden Banden das große Textilgeschäft an der Möserstraße, wie Fotos von damals zeigen. Am Tag darauf zogen Schüler vom Realgymnasium an der Lotter Straße (heute das umgezogene Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium) mit Backsteinen bewaffnet zur Herderstraße 22. Sie schmissen die Fensterscheiben ein und grölten „ Geht nach Palästina!″ „ Mein Ururgroßvater Siegfried Flatauer hat sich von den Geschehnissen dieser Nacht nie wieder erholt″, erzählt die Israelin Irit Segev. Sie ist Anfang 30 und hatte sich mit der Familiengeschichte nie tiefgehend befasst. Bis sie vor Kurzem das Haus ihrer verstorbenen Großmutter ausräumte – der Enkelin von Siegfried Flatauer. Dabei fand sie Bilder der Plünderung des Textilgeschäftes – und begann zu recherchieren. „ Siegfried und seine Frau Sophie schafften es noch im Dezember 1938, Deutschland Richtung Palästina zu verlassen, wo ihre Tochter Ingeborg – meine Urgroßmutter – schon seit 1937 lebte.″ Tragisch jedoch, was Raphael und Alma widerfuhr, wie Segev berichtet: „ Sie kamen zusammen mit meinen Ururgroßeltern 1938 an die Grenze; doch während diese sich bei einem vorherigen Besuch schon die nötigen Zertifikate zur Einreise nach Palästina besorgt hatten, fehlten Raphael und Alma die Dokumente. Die Briten ließen sie nicht einreisen, und beide mussten wieder nach Deutschland.″ Zurück in ein Land, das ihnen den Tod bringen würde, und in ein Haus, das ihnen nicht mehr lange gehören sollte. Denn die Flatauers waren ruiniert. Staatlich gewollt: Am 3. Dezember 1938 wurde in der Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens Juden unter anderem auferlegt, ihre Gewerbebetriebe zu verkaufen oder abzuwickeln und ihren Grundbesitz zu veräußern. Die Flatauers mussten im Juni 1938 die Häuser an der Großen Straße verkaufen. Der Tennisplatz am Uhlenfluchtweg wurde bereits im März veräußert, die Großhandelsfirma „ Flatauer und Co.″ in der Möserstraße am 23. Dezember 1938 abgemeldet. Ein Jahr später war die Abwicklung der Firma beendet. Auf einem Treuhandkonto befanden sich zu dem Zeitpunkt noch 954, 76 Reichsmark. Nur knapp ein halbes Jahr später, am 9. Juni 1939, wurde die Zwangsversteigerung ihres Wohnhauses an der Herderstraße 22 angeordnet, so steht es im Kaufvertrag von damals. Der Hausverkauf Der Käufer war ein Landwirt aus dem südlichen Osnabrücker Landkreis. Nach seinen Angaben hat er von dem Haus aus der Zeitung erfahren. Er wollte es für seine Frau kaufen. „ Im Fall des Todes des Ehemannes sind Frauen bekanntlich schlecht versorgt, so fasste ich Jahre vor Ausbruch des Krieges den Entschluss, meine Frau mit einem nicht dem Erbhofgesetz erfassten Objekt für die alten Tage sicherzustellen″, schreibt er in einer Erklärung. Diese ist in den Akten des Landesarchivs Osnabrück zu finden.„ Es ist nicht abschließend geklärt, aus welchen Gründen es konkret zur Ansetzung einer Zwangsversteigerung kam. Auch der Ablauf des Verkaufs wirft noch Fragen auf. Es erscheint zweifelhaft, ob das Zwangsversteigerungsverfahren tatsächlich durchgeführt worden ist. Möglicherweise ist der Verkauf erfolgt, um gerade dieses Verfahren noch abzuwenden″, sagt Historiker Sebastian Weitkamp. Der Kaufpreis des Hauses betrug laut Vertrag 41 500 Reichsmark – auch für damalige Verhältnisse ein Schnäppchen bei der Lage und der Größe, so der Historiker. Wie in den Akten zu lesen ist, soll das Haus in einem sehr schlechten Zustand gewesen sein – obwohl es gerade einmal zehn Jahre dort stand. Es soll von Schimmelpilz befallen gewesen sein, Dachpfannen fehlten. Dem widerspricht Flatauer im Kaufvertrag. Was der Landwirt für das Haus am Ende gezahlt hat, geht aus den Unterlagen des Landesarchivs nicht hervor. Lediglich ein Kontoauszug der Nordwestbank Osnabrück zeigt, dass am 8. August 1939 ein Betrag von 2245, 31 Reichsmark auf dem Konto der Firma Flatauer & Co. KG Osnabrück eingegangen war. Nach dem Krieg kommt es 1949 zu einem Wiedergutmachungsprozess zwischen den Söhnen des ermordeten Ehepaars Flatauer und der Familie des Landwirtes. Dieser beteuert in den Unterlagen zu dem Fall, dass der Kauf in „ größter Harmonie″ abgelaufen sei. Zudem habe er noch die Hypothek des Grundstücks übernommen. „ Es ist auch gar kein Schaden entstanden, denn das Grundstück war mit rund 42 000 belastet″, so steht es in den Prozessakten. Somit müsse Flatauer ihm sogar dankbar sein, denn er habe ihn schließlich entschuldet.„ Die Menschen waren damals in einer Rechtfertigungssituation. Aussagen dieser Art müssen demnach mit Vorsicht betrachtet werden″, sagt Historiker Weitkamp. Zwar war der Landwirt kein Mitglied der NSDAP – das geht aus seiner Entnazifizierungsakte und weiteren Recherchen zu seiner Person hervor – doch er war „ ein Profiteur von NS-Unrecht″, so Weitkamp. Nur dank der damaligen Umstände kam er an das Haus der Flatauers. Nach dem Verkauf waren die Flatauers Mieter in dem Haus, das sie 1929 für sich erbauen ließen. Noch knapp ein halbes Jahr lebten sie in ihrem ehemaligen Besitz in Osnabrück. „ Hiermit kündige ich meine Wohnung in Ihrem Hause Herderstraße 22 per 31. Januar 1940, ergebenst R. Flatauer″, schrieb der einstige Besitzer. Auch dieses Dokument befindet sich im Landesarchiv. Von Osnabrück aus flüchtete das Ehepaar nach Berlin zu Raphaels weiterem Bruder Arnold. Es hoffte offenbar, in der Großstadt untertauchen zu können. Ein Trugschluss. Während Arnold Flatauer noch rechtzeitig nach Brasilien emigrierte, wurden Alma und Raphael am 26. Februar 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Raphael war damals 66 Jahre alt, seine Frau Alma 53. Wie Raphael und Alma ausgesehen haben, weiß heute niemand mehr, nicht einmal die Verwandten. Fotos von ihnen sind zwischen Flucht und Deportation verloren gegangen. Selbst die Söhne konnten keine Bilder ihrer Eltern retten, vermutet Raphaels Enkel Daniel Flatauer. Geboren in England, lebt er heute in Israel und arbeitet als Keramiker. „ Mein Vater Hans redete kaum über seine Jugend in Deutschland – und noch weniger über seine Eltern″, erzählt er. Dass es ein Haus, eine großbürgerliche Existenz in Osnabrück gab, war ihm nicht bewusst. Nachdem Hans nach England geflüchtet war, lernte er seine Frau kennen. Auch sie eine emigrierte deutsche Jüdin. Die beiden bekamen zwei Kinder. Hans besuchte in den 1950er- und 1960er-Jahren Deutschland immer wieder. „ Er arbeitet in der Süßigkeitenbranche und fuhr oft nach Köln zu einer großen Genuss-Messe. , Ich habe heute mal wieder mit Nazis am Tisch gesessen′, erzählte er manchmal nach seinen Geschäftsreisen. Ansonsten wurde das Thema einfach nicht angesprochen. Ich denke, dass meine beiden Eltern traumatisiert waren vom Verlust ihrer Heimat, ihrer Eltern, Familien, ihrer Existenz″, so Daniel Flatauer. 9000 Deutsche Mark Dabei gab es viel zu berichten: Kurt, der sich bald nach seiner Ankunft in Palästina den Nachnamen Palter gab, und Hans wollten eine Entschädigung für das, was der Familie genommen und angetan wurde. Ein Entgegenkommen der damaligen Käufer ist den Akten nicht zu entnehmen. Der Prozess endete 1951 mit einem Vergleich. Die Besitzerin des Hauses musste eine Ausgleichszahlung in Höhe von 9000 DM an Kurt Palter und Hans Flatauer entrichten. Was wird aus dem Haus?„ Es ist seltsam, wenn man bedenkt, dass ich heute Erbe einer wohlhabenden und angesehenen Osnabrücker Familie sein könnte″, sagt Daniel Flatauer – und lacht. Dass das Haus seiner Großeltern verfällt, stimme ihn traurig, aber noch schlimmer sei es, dass beide ohne etwas, was an sie erinnert, verschwunden seien. „ Wobei, da sind ja die Stolpersteine vor ihrem Haus, oder? Gut, dass es wenigstens sie gibt″, sagt er. Doch was wird aus der Immobilie? „ Solange von dem Haus keine Gefahr für Leib und Leben der Passanten ausgeht, sind der Stadt die Hände gebunden – und das unabhängig von der vielleicht traurigen Geschichte, die es haben mag″, erklärt Stadtsprecher Sven Jürgensen. Was ein Besitzer darüber hinaus mit einem Haus mache, sei seine Privatsache. Eine Antwort, mit der sich Nachbar Hartmut Böhm nicht zufriedengeben will. „ Es ist eine Schande, dieses Haus so verkommen zu lassen. So, als würde man die Opfer von damals noch einmal verhöhnen.″ Böhm hat sich Gedanken gemacht, was mit dem Haus passieren könnte: „ Im Idealfall sollte die Stadt Osnabrück es zurückkaufen – und zwar zu dem Preis, der den Flatauers damals gezahlt wurde. Und es nach einer Renovierung als eine Art Begegnungsstätte nutzen.″ Böhm weiß, dass diese Idee utopisch ist. Denn das Recht steht aufseiten der Besitzerin.„ Vielleicht könnte wenigsten die Fassade wieder weiß gestrichen werden. Es wäre doch passend, wenn das Schüler der Schule machten, die das Haus in der Pogromnacht mit Steinen bewarfen.″ Werden in Zukunft also Schüler des EMA-Gymnasiums Pinsel und Farbe in die Hand nehmen? Besser nicht, erklärt Polizeisprecher Frank Oevermann. „ Der Besitzer des Hauses muss derlei Arbeiten erlauben. Ansonsten ist es eine – wenn auch positive – Sachbeschädigung.″ Und die Besitzerin? Nach dem Tod des Landwirts und seiner Frau ging das Haus an der Herderstraße 22 an die Tochter über. Sie ist inzwischen weit über 80 Jahre alt. Doch für unsere Redaktion bleibt sie unerreichbar. Genauso wie es Nachbarn, ehemalige Mieter und Kaufinteressenten des Grundstücks wieder und wieder berichtet haben, reagiert sie weder auf Anrufe noch auf das Klingeln an ihrer Haustür. Was sie mit der Immobilie vorhat, warum sie keines der unzähligen Kaufangebote annimmt, lässt sich nicht herausfinden. So wird sie wohl immer mehr verfallen, die einst stolze, exotische Villa an der Herderstraße inmitten von Osnabrück. Standardwerke zum Thema Judenverfolgung in Osnabrück: „ Stationen auf dem Weg nach Auschwitz: Entrechtung, Vertreibung, Vernichtung. Juden in Osnabrück 1900–1945″ von Peter Junk und Martina Sellmeyer und „ Topografien des Terrors – Nationalsozialismus in Osnabrück″ herausgegeben von Thorsten Heese. Beide sind im Handel und Online erhältlich. Dieses Haus erzählt einebesondere Geschichte Ein Haus, das sich eine wohlhabende Familie als Residenz gebaut hat. Es ist eine Schande, dieses Haus so verkommen zu lassen.Ein Schnäppchen bei der Lage und der Größe. Bildtext: 1929 war das Haus an der Herderstraße seiner Zeit voraus, doch seit etwa 20 Jahren steht es leer und verfällt zusehends: Die Außenwand dient als Grundlage diverser Graffiti, Fenster sind kaputt geschlagen – und die Rollläden hängen schief in den Fenstern. Die Einflüsse der Bauhaus-Architektur lassen sich hingegen nur noch an der Haustür und der großen Fensterfront erahnen. Das Hochzeitsbild Siegfried Flatauers – Bruder von Raphael – überdauerte die Zeit. Oben rechts die Plünderung des Tuchgeschäfts der Flatauers 1938. Unten ein Blick auf den Zimmerspringbrunnen in der Herderstraße 22. Zwei Stolpersteine erinnern an die ehemaligen Besitzer Raphael und Alma Flatauer. Rundbogenfenster, Flachdach und weniger hoch: Hartmut Böhm hat ein Bild des Hauses Nummer 22 in der Herderstraße gemalt, so wie er den Ursprungszustand nach seinen privaten Recherchen vermutet. Fotos: Michael Gründel, Segel/ Mayr/ Ordelheide Treffen zum Putzen der Stolpersteine Am kommenden Samstag, dem 11. November, werden die Stolpersteine von Raphael und Alma Flatauer– wie auch alle anderen Stolpersteine im Katharinenviertel – geputzt. Initiiert wird die Aktion vom Bürgerverein Katharinenviertel. „ Wir wollen damit einen Beitrag leisten, dass das Unrecht des Naziregimes niemals vergessen wird″, heißt es dazu auf der Homepage des Vereins. Treffpunkt ist um 11 Uhr vor dem Haus an der Herderstraße 22.
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