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NUSO-Archiv - Umweltgeschichtliches Zeitungsarchiv für Osnabrück
Umweltgeschichtliches Zeitungsarchiv für Osnabrück
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aus Zeitung:
Überschrift:
Integriert – und dann droht die Abschiebung
Zwischenüberschrift:
Die Folgen des Dublin-Verfahrens – Syrer soll zurück nach Kroatien
Artikel:
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Originaltext:
Er spricht fast perfekt Deutsch, hat einen Ausbildungsvertrag in der Tasche und in Osnabrück Fuß gefasst. Trotzdem soll ein junger Syrer bis Oktober das Land verlassen. Die Bundesrepublik will ihn gemäß Dublin-III-Verordnung zurück nach Kroatien schicken, wo er vor anderthalb Jahren erstmals EU-Boden betreten hat.

Osnabrück. Nach über einem Jahr bekomme ich die Abschiebung wie kann das sein?″, fragt der Syrer. In der Zeitung möchte der 22-Jährige auf Anraten seiner Anwältin anonym bleiben, nennen wir ihn Halim. Anfang 2016 kam er nach Deutschland; zusammen mit seinem Bruder lebt er in einer kleinen Wohnung in Osnabrück. Ständig fährt er sich mit der Hand über die Augen. Seit er die Abschiebe-Anordnung nach Kroatien erhalten hat, schläft er kaum noch, sagt er. Niemand will mich haben.″

In Kroatien, dem Land, in das er abgeschoben werden soll, habe er auf der Flucht gerade einmal sechs Stunden verbracht, zählt Halim. Die haben uns gesagt: Wir wollen euch hier nicht.″ Es war der Winter nach der großen Flüchtlingswelle über die Balkanroute, die ab dem Spätsommer 2015 auf ihren Höhepunkt zusteuerte. Am 4. September 2015 hatte die Bundesregierung die Grenzen geöffnet.

Halim und sein Bruder reisten über Slowenien und Österreich weiter nach Deutschland. Hier warteten sie wie Tausende andere monatelang darauf, dass ihre Fälle vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) bearbeitet wurden. Die Abschiebungsanordnung nach Kroatien erhielt Halim vor vier Monaten zeitgleich mit einem Platz in einem Integrationskurs. Per Eilantrag legte er Widerspruch gegen die Abschiebung ein. Bis Mitte Oktober muss er bangen, dann läuft die Abschiebefrist ab. Dabei hat er einen unterschriebenen Vertrag für eine Ausbildung zum Großhandelskaufmann in der Tasche. Eigentlich dachte er, dass er eine Ausbildungsduldung bekommen würde, das habe ihm eine Mitarbeiterin bei der Ausländerbehörde gesagt. Die nächste Mitarbeiterin hat dann gesagt: Ist nicht.″

Da fehlen einem die Worte″, sagt Marion Hilkmann. Die Deutschlehrerin erfährt Tag für Tag in ihren Kursen an der Volkshochschule Osnabrück von solchen Geschichten. Die kostenlosen Kurse des Landes Niedersachsen richten sich an alle Flüchtlinge unabhängig von ihrem aktuellen Aufenthaltsstatus. Es gibt Teilnehmer, die wissen, dass sie am nächsten Tag abgeholt werden und trotzdem noch an der Prüfung teilnehmen″, sagt Hilkmann. Mehr als die Hälfte ihrer Schüler warte auf die Abschiebung.

Solche Fälle sind für uns regelmäßig ein Ärgernis″, sagt Kai Weber vom Niedersächsischen Flüchtlingsrat, als unsere Redaktion ihm von Halim erzählt. Grundsätzlich sei es zwar sinnvoll, wenn es in Europa ein solidarisches Verteilsystem wie Dublin gebe, sagt Weber. Aber bei Leuten, die hier schon angekommen und integriert sind, macht das faktisch keinen Sinn.″ Der Bund ist keineswegs gezwungen, den jungen Syrer nach Kroatien zurückzuschicken. Deutschland kann von dem sogenannten Selbsteintrittsrecht Gebrauch machen, muss aber nicht. Weber rät in solchen Fällen, an die städtische Ausländerbehörde und das Land zu appellieren. Das Land ist zwar formal nicht zuständig, es kann sich aber durchaus dafür einsetzen, dass qualifizierte Leute hierbleiben dürfen″, so Weber. Und: Auch die Stadt Osnabrück kann sich beim Bamf dafür einsetzen, dass der junge Mann hierbleiben darf.″

Abschiebung abgewendet

Einem anderen Syrer, auch er spricht fließend Deutsch, erging es ähnlich wie Halim. Im März 2016 kam er nach Deutschland, ein Jahr später sollte er nach Kroatien abgeschoben werden. Kurz vor Ablauf der Abschiebefrist kamen morgens um 6 Uhr die Mitarbeiter der Landesaufnahmebehörde, um ihn zum Flughafen zu bringen dabei hatte er ein ärztliches Attest. Sein Anwalt hatte es versäumt, es ans Bamf weiterzuleiten, erzählt er. Er hatte Glück und durfte bleiben.

Den Anwälten könne man kaum Vorwürfe machen, die seien völlig überlastet, sagt Marion Hilkmann. Aber dass etliche Afghanen Abschiebungsandrohungen bekommen, versteht sie nicht. Denn de facto werden afghanische Flüchtlinge aus Niedersachsen zurzeit nicht nach Afghanistan abgeschoben. Einem von Hilkmanns afghanischen Schülern wurde trotzdem genau das angekündigt. Nach viel Hin und Her darf er nach den Sommerferien trotzdem eine Ausbildung zum Fachinformatiker in Osnabrück starten und hat eine Ausbildungsduldung bekommen. Doch er berichtet, nur zwei von 150 Afghanen in Osnabrück hätten ein Bleiberecht er sei einer davon.

Wie viele Flüchtlinge in Osnabrück zurzeit tatsächlich mit Abschiebungsanordnungen und damit in Ungewissheit leben, bleibt unklar. Auf Anfrage unserer Redaktion sagte Gerhard Meyering vom städtischen Presseamt, dass die Stadt keine Statistik darüber führe. Um die Zahl zu ermitteln und unsere Frage zu beantworten, müssten die Mitarbeiter in jede einzelne Akte schauen, das sei unverhältnismäßig. Das Bamf wiederum verweist auf die Stadt Osnabrück und gibt nur bundesweite Zahlen heraus.

Tatsächlich werden bislang aus Osnabrück nur wenige Geflüchtete abgeschoben. 19 Menschen mussten von Januar bis Mitte Mai 2017 Osnabrück unter Zwang verlassen. Diese Zahlen hatte die Stadt im Mai auf Anfrage der Linken-Ratsfraktion veröffentlicht. Vor allem die Zahl der sogenannten Rücküberstellungen gemäß Dublin-III-Verordnung, wie sie Halim droht, hatte zugenommen, wenn auch bislang auf geringem Niveau. 15 Geflüchtete wurden bis Mitte Mai in das EU-Land zurückgeschickt, das sie auf ihrer Flucht nach Europa zuerst betreten hatten. Ob Halim dasselbe Schicksal droht, bleibt ungewiss. In Kroatien hat man uns wie eine Ware behandelt″, sagt er. In Osnabrück hingegen hat er sich etwas aufgebaut, hat Freunde und sogar eine berufliche Perspektive. Er will bleiben und der Gesellschaft etwas zurückgeben, die ihn so offen empfangen hat. Ich habe alles getan, was ich konnte″, sagt er.

Bildtexte:
Sie leben seit über einem Jahr in Osnabrück und sprechen fließend Deutsch. Zwei Syrer und ein Afghane mussten dennoch fürchten, abgeschoben zu werden. So wie ihnen geht es etlichen anderen.

Deutschlehrerin Marion Hilkmann erlebt solche Geschichten Tag für Tag in ihren Sprachkursen an der VHS Osnabrück.

Fotos:
Michael Gründel

Die Dublin-III-Verordnung

Das Dublin-Abkommen regelt theoretisch, welcher EU-Staat für die Bearbeitung eines Asylverfahrens zuständig ist: Jener, in dem ein Geflüchteter erstmals EU-Boden betritt. Es gilt außerdem in den Nicht-EU-Staaten Norwegen, Island, Schweiz und Liechtenstein. Das System steht in der Kritik, da es faktisch nur die Staaten an den EU-Außengrenzen belastet und die dafür massiv. Das sogenannte Relocation-Programm zur Umverteilung von Flüchtlingen aus Italien und Griechenland auf andere EU-Staaten sollte Abhilfe schaffen, scheitert aber am Willen etlicher EU-Staaten, Flüchtlinge aufzunehmen. Und auch in Deutschland läuft die Umverteilung sehr schleppend.

Dublin in der deutschen Praxis

Wenn der Bund einen Geflüchteten ins Erstankunftsland (Griechenland ist außen vor) zurückschicken will, stellt das Bamf ein Übernahmeersuchen. Nur wenn der andere Mitgliedstaat bereit ist, das Asylverfahren selbst zu bearbeiten, wird der Betroffene dorthin abgeschoben. In der Zeit von Januar bis Ende Mai 2017 stellte Deutschland 24 361 Übernahmeersuchen und erhielt 18 035 Zustimmungen.

Bis Ende Juni summierten sich die Übernahmeersuchen auf 29 507. Faktisch in einen anderen Mitgliedstaat abgeschoben wurden 3085 Geflüchtete das sind schon jetzt fast so viele wie im gesamten
Jahr 2016. 3968 Geflüchtete wurden im vergangenen Jahr in einen Mitgliedstaat zurückgeschickt. 55 690 Übernahmeersuchen stellte Deutschland 2016, in 29 274 Fällen stimmten die Staaten der
Rücküberstellung zu.
Autor:
Sandra Dorn


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