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NUSO-Archiv - Umweltgeschichtliches Zeitungsarchiv für Osnabrück
Umweltgeschichtliches Zeitungsarchiv für Osnabrück
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Erscheinungsdatum:
aus Zeitung:
Überschrift:
Als der Fallout in Osnabrück ankam
Zwischenüberschrift:
Vor 30 Jahren sorgte die Tschernobyl-Katastrophe auch in Norddeutschland für Angst
Artikel:
Kleinbild
Originaltext:
Kinder durften nicht in den Sandkasten, Kühe nicht auf die Weide. Kopfsalat war unverkäuflich, und statt Frischmilch gab es H-Milch. Vor 30 Jahren explodierte der Reaktor in Tschernobyl und kurze Zeit später kam der radioaktive Fallout auch in Osnabrück an.
Osnabrück. Es war nichts zu sehen, zu riechen und oder zu schmecken. Aber zehn Tage nach dem Reaktorunglück im 1500 km entfernten Tschernobyl wurde auch in Osnabrück langsam zur Gewissheit, dass eine radioaktive Wolke Wiesen und Felder, Spielplätze und Vorgärten verstrahlt hatte. Angst und Verunsicherung gingen um, vor allem bei den Eltern kleiner Kinder. Aber Messwerte wurden tagelang unter Verschluss gehalten, und die permanenten Beschwichtigungen des niedersächsischen Innenministeriums ließen viele Menschen misstrauisch werden.
Dass die Reaktorkatastrophe in Osnabrück nicht zur Informationskatastrophe wurde, verdankte die Stadt einem engagierten Physikprofessor der Fachhochschule. Wilhelm Prigge vom Institut für Radiologie und Strahlenschutz lieferte kontinuierlich Messwerte verstrahlter Lebensmittel, Böden oder Luftfilter aus der Region. Und Karin Augustin, die Presseamtsleiterin der Stadt, richtete kurzfristig ein Bürgertelefon ein, um die vielen Anfragen aus der Bevölkerung auch aus dem Landkreis zu beantworten.
Beim Einkauf und beim Essen drehte sich auf einmal alles um eine Maßeinheit, von der vorher noch niemand gehört hatte: Strahlungswerte für Lebensmittel wurden in Becquerel (bq) angegeben. Kopfsalat mit 180 bq landete auf dem Müll, bei Schnittlauch zeigten die Detektoren 1245 und bei Petersilie sogar 7647 bq an. Für viele Menschen blieb das krause Küchenkraut monatelang tabu, obwohl die Strahlenbelastung ja auf ein ganzes Kilo bezogen war.
Die höchsten Werte ermittelten Prigge und seine Mitarbeiter jedoch nicht im Gemüse, sondern in Luftfiltern, etwa von Klimaanlagen. Filtereinsätze einer Belüftungsanlage aus dem Klärwerk in Eversburg brachten es auf einen unrühmlichen Rekord von 48 000 bq für Cäsium-137. Die gehören in die Endlagerung″, meinte ein Strahlungsexperte damals.
Kann es auch bei uns zu einer Reaktorschmelze wie in Tschernobyl kommen? Diese Frage bewegte auch in Osnabrück viele Menschen, zumal das Atomkraftwerk Lingen nur gute 50 Kilometer entfernt ist. Im Fernsehen mochten Manager und Politiker unentwegt bekunden, die deutschen Atomkraftwerke seien die sichersten Welt, aber die Botschaft weckte eher Misstrauen.
Am 9. Mai, 13 Tage nach dem Super-GAU, zog ein langer Demonstrationszug durch die Stadt. Tschernobyl ist überall!″, skandierten die 3000 Teilnehmer und rollten gelbe Fässer durch die Große Straße. Die Forderung der Anti-AKW-Bewegung, sämtliche Atomanlagen abzuschalten, fand damals kein Gehör. Aber sie wirkte nach und bereitete den Boden für den Ausstieg, den Bundeskanzlerin Angela Merkel nach der Katastrophe von Fukushima 2011 endgültig durchsetzte.
30 Jahre nach dem Reaktorunglück sterben in der Region von Tschernobyl noch immer Menschen an der Strahlenkrankheit. In Deutschland gibt es Regionen, in denen die radioaktiven Zerfallsprodukte im Boden noch immer nachwirken. So werden bei Wildschweinen und Maronenröhrlingen in Bayern weiterhin viel zu hohe Belastungen festgestellt. Im norddeutschen Raum ist die Strahlung aber spürbar abgeklungen. Wer 1986 in Osnabrück sorgenvoll die Becquerel-Werte von Lebensmitteln verglich, kann heute konstatieren: Wir sind mit einem blauen Auge davongekommen.

Bildtext:

Kistenweise mussten Mitarbeiter des Osnabrücker Obst- und Gemüsegroßmarkts nach der Reaktorkatastrophe in der Sowjetunion unverkäufliche Salatköpfe auf die Mülldeponie Piesberg kippen. Foto: Archiv/ Michael Hehmann

" Tschernobyl ist überall", skandierten die Teilnehmer dieser Demonstration kurz nach der Reaktorkatastrophe in der Großen Straße.

Foto: Archiv/ Klaus Lindemann
Autor:
R. Lahmann-Lammert


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