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NUSO-Archiv - Umweltgeschichtliches Zeitungsarchiv für Osnabrück
Umweltgeschichtliches Zeitungsarchiv für Osnabrück
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Erscheinungsdatum:
aus Zeitung:
Überschrift:
350 Gläubige bei Sinti-Zeltmission
 
"Streichen Sie das Wort Zigeuner"
Zwischenüberschrift:
Ein Besuch bei der Sinti-Zeltmission in Osnabrück – Sonntag Gedenken an ermordete Roma in Auschwitz
Artikel:
Kleinbild
 
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Originaltext:
Osnabrück. 70 Jahre nach Kriegsende sind Sinti in Deutschland immer noch Anfeindungen ausgesetzt. Ein Besuch bei der Sinti-Zeltmission auf dem Gelände der ehemaligen Landwehrkaserne mit rund 350 Teilnehmern öffnet die Augen. " Redet mit uns statt über uns", sagt Jonny Böhmer vom Niedersächsischen Verband Deutscher Sinti.

Osnabrück. Wer über Sinti schreiben will, hat ein Problem. Denn während bei anderen Themen die Notizen vom Block geradezu von selbst in die Zeilen springen, muss der Autor hier erst einmal innehalten. Zu viele Vorurteile, Klischees und Begriffe drängen sich in den Vordergrund.
Zum Glück gibt es Menschen wie Jonny Böhmer. Er ist Osnabrücker " durch und durch, in siebter Generation" und vom Niedersächsischen Verband Deutscher Sinti. Wenn man ihn fragt, wie er einem Kind den Begriff Sinti erklären würde, lacht der Vater von fünf Kindern: " Sinti sind Deutsche mit einer besonderen Kultur", sagt er. So einfach. Und doch so schwierig.
Seit 600 Jahren leben Sinti im deutschsprachigen Raum, 1407 wurden sie in Hildesheim erstmals urkundlich erwähnt. Und freundlich begrüßt: " Es gab den schwarzen Trunk", erzählt Böhmer, als wäre er dabei gewesen. Auch dieser kräftige Mann beherrscht das, was Wissenschaftler sperrig " orale Überlieferung" nennen, eine Erzählkunst, für die die Sinti so berühmt sind wie für ihre Musik und ihre Sprache. Der schwarze Trunk? " Das war natürlich Kaffee", sagt Böhmer und lächelt verschmitzt.
Geschichtsfans dürfen gern anmerken, dass der Kaffee wohl erst sehr viel später in Deutschland in die Becher floss. Aber ist das wichtig? Nein, denn die zentrale Aussage ist es, die zählt: Die Sinti leben hier, seit Jahrhunderten. Sie sind " so deutsch, wie man nur sein kann", sagt Böhmer. Und sie sind so besonders, wie es andere anerkannte nationale Minderheiten, etwa Dänen oder Sorben, auch sind.
Fast zwei Wochen lang haben rund 350 Sinti aus ganz Deutschland in Osnabrück ihre Zelte aufgeschlagen und ihre Wohnwagen auf dem Gelände der ehemaligen Landwehrkaserne platziert. Zeltmission nennen sie das Treffen, das nicht nur Austausch, Wiedersehen, Gottesdienste und einige gemütliche Tage in der Gemeinschaft bedeutet, sondern auch die Chance für Nicht-Sinti, diese Kultur kennenzulernen. " Das größte Problem ist Unwissenheit", so Böhmer und berichtet, wie er immer und immer wieder erklären müsse, dass aus dem " fahrenden Volk" längst ein sesshaftes geworden sei. " Ich kenne keinen Sinti, der nicht von sich sagen würde, dass er sesshaft ist."
Es sei eine Gratwanderung zwischen Anpassung und der Bewahrung ihrer ureigenen Kultur, beschreibt es der Familienvater geduldig. Doch wie geduldig muss man sein, um immer und immer wieder Selbstverständlichkeiten zu betonen? Der Glaube helfe ihm, sagt Böhmer. " Gott liebt mich, weil ich ich bin, ohne Bedingungen", erklärt der Osnabrücker.
Tatsächlich werden Sinti in Deutschland bis heute angefeindet und ausgegrenzt. Und das, nachdem die Nationalsozialisten die Sinti aus rein rassistischen Gründen nahezu vollständig vernichtet haben. " Mein Opa musste sich in Osnabrück an den Bahnhof stellen mit einem Schild um den Hals. Darauf stand: , Ich bin Zigeuner, ich will nach Auschwitz.′ Und so kam er nach Auschwitz", erzählt Böhmer.
Insgesamt ermordeten die Nazis rund eine halbe Million Sinti und Roma. Die wenigen Tausend Sinti, die nach dem Krieg noch in Deutschland lebten, warteten vergeblich auf Entschädigungen. Erst in den Achtzigern habe Kanzler Helmut Schmidt sich entschuldigt, erinnert sich Böhmer. " Man hat uns einfach vergessen", glaubt er.
Da passt es, dass die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Christine Lüders, nun fordert, die Geschichte und die Verfolgung der Sinti und Roma in die Geschichtsbücher aufzunehmen. " Der Völkermord an Sinti und Roma ist ein unsagbar schändlicher und beschämender Teil der deutschen Geschichte, der jahrzehntelang verharmlost und verschwiegen wurde. Umso unerträglicher ist es, dass manchen dieser Genozid nicht einmal bekannt ist", sagte Lüders am Freitag in Berlin.
An diesem Sonntag, 2. August, ist der offizielle Gedenktag für die Ermordung von Roma und Sinti im Konzen trationslager Auschwitz-Birkenau. " Streichen Sie das Wort Zigeuner aus Ihrem Wortschatz", sagt Böhmer.
Bildtext:
Redet mit uns, nicht über uns, sagt Jonny Böhmer vom Niedersächsischen Verband Deutscher Sinti. Zur Zeltmission (rechts) sind 350 Sinti angereist.
Fotos:
David Ebener
Autor:
Melanie Heike Schmidt


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