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NUSO-Archiv - Umweltgeschichtliches Zeitungsarchiv für Osnabrück
Umweltgeschichtliches Zeitungsarchiv für Osnabrück
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Erscheinungsdatum:
aus Zeitung:
Überschrift:
Und Gisle schrieb ihn doch . . .
Zwischenüberschrift:
Wie heutige Fachkollegen Museumsdirektor Dolfen widerlegen
Artikel:
Kleinbild
 
Kleinbild
Originaltext:
Osnabrück. Birgitten oder Zisterzienserinnen? Diese Frage beschäftigte die Fachwelt für Jahrzehnte, wenn es um den Codex Gisle ging. Der Osnabrücker Priester und Geschichtsforscher Christian Dolfen hatte diese bedeutendste mittelalterliche Bildhandschrift Nordwestdeutschlands wiederentdeckt und 1926 teilweise als Faksimile vorgelegt. Dabei war das aufwendige Druckprojekt keine lokale Initiative: Neben dem Osnabrücker Domkapitel trug auch die Provinz Hannover zu seiner Finanzierung bei.
" Beim Anblick der herrlichen Miniaturen des Codex Gisle ist häufig der Wunsch laut geworden, wenigstens die wichtigsten Tafeln weiteren Kreisen zugänglich zu machen", heißt es in der Werbeschrift, die zum Kauf von insgesamt 300 limitierten und nummerierten Exemplaren animieren sollte: Dabei waren die Nummern 1 bis 10 in Ganzpergament gebunden und für 400 Reichsmark (RM) erhältlich, während die Nummern 11 bis 300 in Halbpergament-Bindung 300 RM kosteten. Um der Kaufentscheidung potenzieller Subskribenten nachzuhelfen, kündigte der Verlag Buchenau & Reichert einen nach Erscheinen wesentlich höheren Ladenpreis an.
Hochwertigstes Papier für Text- und Bildtafeln lieferte die Feinpapierfabrik Felix Schoeller jr. in Osnabrück-Gretesch. Die Ausführung der Bildseiten erfolgte im aufwendigen Doppeltonlichtdruckverfahren, wobei für die sechs farbigen Tafeln im Faksimilelichtdruck echtes Gold verwendet wurde.
Während noch heute die ausgezeichnete Druckqualität beeindruckt, erregte vor neun Jahrzehnten auch der wissenschaftliche Kommentar Christian Dolfens die Gemüter. Zwar deuteten verschiedene Fakten auf eine Entstehung des Codex Gisle um 1300 im Zisterzienserinnenkloster Rulle bei Osnabrück hin, doch der bischöfliche Museumsdirektor Dolfen hielt stattdessen Birgittenschwestern für die Auftraggeberinnen und eine niederländische Mal- und Schreibwerkstatt für den Entstehungsort der prächtigen Musikhandschrift.
Kronen der Birgitten?
Da der Orden der heiligen Birgitta erst 1346 gegründet wurde und das erste Kloster im schwedischen Vadstena in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts entstand, konnte der Codex frühestens in diese Zeit fallen. Ein Argument waren damals die Leinenkronen auf den Schleiern der Nonnen, die Dolfen eindeutig den Birgitten zuordnete. Immerhin zeigen drei Bildinitialen im Codex Schwestern mit diesen Kronen, von denen eine zusätzlich Applikationen mit den fünf Wundmalen Christi andeutet.
Wegen seiner souveränen Beweisführung aus den historischen Quellen hielt sich der Widerspruch gegen Dolfen in Grenzen. Zwar hatte dieser bereits ähnliche Kronen im Heidekloster Medingen konstatiert, doch erst die Kunsthistorikerin Renate Kroos führte 1973 den endgültigen Nachweis, das Zisterzienserinnen im Heidekloster Wienhausen und andernorts schon um und nach 1300 entsprechende Kopfbedeckungen nutzten.
2006 verfasste die amerikanische Kunsthistorikerin Judith Oliver eine ausführliche Arbeit in englischer Sprache und entfachte damit vor allem im englischen Sprachraum neue Diskussionen um den Codex.
Keine Zweifel mehr
Als der Quaternio Verlag Luzern 2014 ein vollständiges Faksimile einschließlich des mittelalterlichen Einbandes auflegte, bat er die Kunsthistoriker Harald Wolter-von dem Knesebeck und Beate Braun-Niehr für den Kommentarband um ihre Expertisen. Sie sehen die im Jahr 1300 verstorbene Sangmeisterin des Klosters, Gisela von Kerssenbrock, als Stifterin und Mitgestalterin der kostbaren Schrift, an der mindestens drei Schreiberinnen und zwei Maler gearbeitet haben sollen.
An der zisterziensischen Urheberschaft besteht für sie kein Zweifel: Der kleine, zu Giselas Zeiten lediglich aus sechs Schwestern bestehende, eher arme Konvent leistete sich demnach zur Weihe des ersten Bauabschnitts seiner Kirche um 1300 ein herausragendes Schmuckstück westfälisch-niedersächsischer Buchkunst.
Verdienstvoller Dolfen
Damit scheint Christian Dolfens wissenschaftliche Beweisführung endgültig widerlegt. Und doch klingt der Name des kreativen Priesters in Osnabrück auch heute nach. Er war der Motor des 1918 gegründeten Diözesanmuseums, dessen Gestaltung ihm in den 1930er-Jahren höchstes Lob aus ästhetischer und konservatorischer Sicht einbrachte. Wegen seiner herausragenden Verdienste um die kulturhistorische Erforschung Osnabrücks zeichnete ihn die Stadt 1952 mit der Justus-Möser-Medaille aus, und die Universität Göttingen verlieh ihm 1955 die philosophische Ehrendoktorwürde.
Der Autor Hermann Queckenstedt ist promovierter Historiker und Direktor des Diözesanmuseums Osnabrück.
Bildtexte:
Für Christian Dolfen fälschlicherweise Birgitten: der Ruller Zisterzienserinnenkonvent mit Sangmeisterin Gisela " Gisle" von Kerssenbrock (Ausschnitt aus der Weihnachtsinitiale des Codex Gisle).
Zum Vergleich: Die Birgittenschwestern in Bremen tragen noch heute die Leinenkrone mit den fünf Wundmalen Christi auf ihren Schleiern.
Andächtig kniet die Nonne Gisela von Kerssenbrock auf dem Osterbild des Codex Gisle hinter der Gottesmutter und dem siegreich auferstehenden Christus, der in der unteren Hälfte der Initiale seine legendäre Höllenfahrt unternimmt. Heute sieht die Wissenschaft Gisela nicht nur als Stifterin, sondern auch als Mitarbeiterin an der bedeutenden mittelalterlichen Musikhandschrift.
Fotos:
Quaterino Verlag Luzern, Diözesanmuseum Osnabrück

Codex Gisle – " Neuer Klang aus alten Noten"

Mit seinen 53 prächtigen Initialen inspirierte der Codex Gisle die Ruller Zisterzienserinnen über fünf Jahrhunderte zu engelsgleichen Gesängen in den Gottesdiensten. Die Sonderausstellung " Singen wie die Engel" über den Codex, seinen gestalterischen und theologischen Reichtum sowie seine kulturhistorischen Hintergründe ist derzeit im Diözesanmuseum Osnabrück zu sehen.

In der Bischofsmesse am Ostersonntag ab 9.45 Uhr wird die Choralschola des Osnabrücker Jugendchores Gesänge aus dem Codex Gisle vortragen.

Unter dem Titel " Neuer Klang aus alten Noten" beleuchten das Diözesanmuseum und der Quaternio Verlag Luzern das Graduale am Donnerstag, 23. April, ganztägig aus kultur- und musikhistorischen Blickwinkeln. Ab 10 Uhr wird Museumsdirektor Hermann Queckenstedt durch Sonderausstellung und Domschatz führen. Nach dem Mittagessen erläutert Buchbinder Hans-Jörg Steinbrener, wie der Codex Gisle faksimiliert wurde. Anschließend wird Prof. Franz-Josef Rahe von der Abteilung für Gregorianik der Hochschule für Künste in Bremen unter dem Titel " Vom Schriftwort zum Klanggedächtnis" über das Verhältnis von Text und Ton im Codex sprechen. Der Tag klingt mit einer Fahrt zum ehemaligen Zisterzienserinnenkloster Rulle aus, wo ab 17.30 Uhr nach einer Führung die Choralschola des Osnabrücker Jugendchors Gesänge aus dem Codex intonieren wird. Der Preis liegt einschließlich Mittag- und Abendessen bei 98 €Euro. Infos und Anmeldungen beim Diözesanmuseum unter Telefon 05 41/ 318-481.
Autor:
Hermann Queckenstedt


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