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NUSO-Archiv - Umweltgeschichtliches Zeitungsarchiv für Osnabrück
Umweltgeschichtliches Zeitungsarchiv für Osnabrück
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Erscheinungsdatum:
aus Zeitung:
Überschrift:
Als der Karfreitag zum "Carfreitag" wurde
Zwischenüberschrift:
Eine illegale Rennmeile ist die Pagenstecherstraße längst nicht mehr
Artikel:
Kleinbild
Originaltext:
Osnabrück. Es gab einmal eine Zeit, da galt Osnabrück als deutsche Autotuning-Hauptstadt und die Pagenstecherstraße als Allee der aufgemotzten Automobile. Das ist lange vorbei. Heute ist es um die Straße ruhig geworden. Ein Rückblick.

Vergangene Woche kam es zu einem Unfall auf einer Osnabrücker Ausfallstraße. Als Ursache wird ein illegales Autorennen vermutet. Dass man bei dieser Nachricht hellhörig wird, liegt daran, dass es sich um die Pagenstecherstraße handelt. Denn es ist keine 15 Jahre her, da herrschte hier von Frühling bis Herbst wöchentlich Ausnahmezustand: Tausende Schaulustige standen freitags Hundertschaften der Polizei gegenüber und die Stadt an der Hase wurde deutschlandweit bekannt als Treffpunkt für die Autotuning-Szene.

Die Anfänge

Angefangen hat es jedoch sehr überschaubar, fast schon idyllisch im Jahr 1988. Zum einen eröffnete in dem Jahr an der Pagenstecherstraße eine McDonald′s-Filiale. " Zum anderen hatten viele junge , Erwachsene′ zu dieser Zeit ein CB-Funkgerät im Auto verbaut", erzählt uns Tuning-Fan Mike von Döbern auf Facebook. " Wir Funker verlegten unseren Treffpunkt vom Belmer Funkturm in die Stadt zu dem damals neuen Fast-Food-Restaurant."

Ähnliches beobachtete Rainer Schlingmeyer: " Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre trafen sich an der Tankstelle an der Pagenstecherstraße freitags 10 bis 20 Leute, die sich gegenseitig ihre getunten Fahrzeuge präsentierten." Der heute 55-Jährige arbeitete von 2000 bis 2003 in einer Firma, die direkt an der Pagenstecherstraße lag und erlebte damals hautnah die Hochphase der " Carfreitage" mit.

" Rennen fuhr dort keiner von ihnen, stattdessen cruisten die Fahrer die Straße zwischen der Ecke Springmannskamp bis zur der Kreuzung Römereschstraße/ Breite-Güntke-Straße und wieder zurück." Langsam, versteht sich. Schließlich wollten sie ja zeigen, was sie hatten.

Start der Saison der Pagenstecherstraße wurde der Karfreitag: Indem das " K" durch ein " C" ersetzt wurde, wurde der hohe christliche Feiertag zum Auto-Freitag. " Von dem Tag an ging es die darauffolgenden Wochen bis in den Herbst hinein freitags immer um getunte Autos", sagt Schlingmeyer.

Auch die Polizei zeigte in den Neunzigern schon Präsenz, erzählt Schlingmeyer: " Die fuhren an den Abenden ebenfalls ihre Runden, mussten aber nie eingreifen." Schlingmeyer selbst war ebenfalls interessierter Beobachter, zählte sich aber nie zur Tuning-Szene. Seine Sympathie gehört ihr trotzdem.

Die Hochphase

Anfang der 2000er-Jahre wurden die Treffen bekannter und es wurde voller. Schlingmeyer vermutet, dass dies am Aufkommen des Internets lag: " Plötzlich konnte sich die Szene deutschlandweit vernetzen, der , Carfreitag′ in Osnabrück wurde überregional bekannt." Ablesen konnte man dies auch an den Kennzeichen: " In den ersten Jahren waren sie überwiegend regional, begannen mit OS, ST oder BI. Ab dem Jahr 2000 kamen dann immer mehr Autos aus dem tiefsten Ruhrgebiet extra nach Osnabrück." Statt zu cruisen, wurden vermehrt kurze Beschleunigungsrennen – " Stechen" genannt gefahren.

Im sonstigen Bundesgebiet blieben die Treffen nicht unbemerkt: Die " Süddeutsche Zeitung" und " Die Welt" berichteten und ernannten Osnabrück zur " Hauptstadt für illegale Autorennen". Außerhalb der Stadt wurde man derweil auf " die Page" angesprochen. Infolgedessen kamen noch mehr Menschen, um sich das Spektakel anzusehen. Teilweise ging an den Freitagabenden nichts mehr auf der Pagenstecherstraße, und über 300 Polizisten versuchten, der Lage Herr zu werden.

" Der Polizeieinsatz erinnerte an ein Derby des VfL Osnabrück", erzählt Schlingmeyer, der damals einen Honda CRX in Zitronengelb fuhr. Auf dem Weg von seiner Arbeitsstelle zum Fitnesscenter wurde er regelmäßig kontrolliert, durfte aber immer weiterfahren. Anders erging es denen, die Platzverweise bekamen oder deren Fahrzeuge gleich ganz beschlagnahmt wurden. Und es blieb Müll liegen: Samstagmorgens gingen Mitarbeiter der ansässigen Fast-Food-Ketten mit Säcken die gesamte Straße ab, um den Abfall einzusammeln.

Schaulustige, Fans und Polizei

" Je mehr Schaulustige kamen, desto mehr wollten die Leute zeigen, was ihre Autos konnten", erinnert sich Polizeisprecher Georg Linke. Es war eine Kettenreaktion: Mehr aufgemotzte Autos zogen automatisch mehr Schaulustige nach sich, und all das wiederum mehr Polizisten. Linke spricht von " Auswüchsen", die man immer restriktiver habe kontrollieren müssen. " Es gab Übergriffe gegen Polizisten und gegen Abschleppunternehmen."

Helge Blischke, der seit 1998 die Website pagenstecher.de betreibt, erinnert sich an die Stürmung der Aral-Tankstelle im Jahr 2002. Der Tuning-Fan erster Stunde bezeichnet es als einen der " schlimmsten Carfreitage. Zu viele Chaoten, viel zu wenig Polizei". 2003 blieb die Tankstelle an der Straße dann gleich geschlossen, da man Randale befürchtete.

Die Polizei reagierte. Mit Kontrollen, die schon an den Autobahnabfahrten begannen, mit Stahlschwellen die nicht allen Fahrzeugen bekamen –, dann mit Schuttcontainern und letztendlich mit Straßensperren. Diese seien im Gegenzug über Schleichwege umfahren worden, sagt Schlingmeyer, bis auch diese von der Polizei gesperrt wurden. Als erfolgreich erwies sich ab 2002 der Einsatz ausklappbarer Schranken. Diese sorgten dafür, dass die Autos, deren Halter nicht gleich einen Platzverweis erhielten, nur noch im Schritttempo über die Pagenstecherstraße fuhren.

Das Ende

Die Schranken, das massive Polizeiaufgebot, Beschlagnahmungen von Autos und auch der Massenandrang von Schaulustigen, der nicht jedem Tuning-Fan genehm war: Der Erfolg als Partymeile mit PS läutete gleichzeitig das Ende der Pagenstecherstraße als Tuning-Treffpunkt ein. " Es wurden von Jahr zu Jahr immer weniger, sodass es Ende der 2000er quasi keine Vorkommnisse mehr gab", sagt Linke. 2009 hieß es dann in unserer Zeitung: " Tote Hose auf der Pagenstecherstraße".

Und die Szene? " Die zog erst gen Bramsche, Hannover und Bielefeld", sagt Schlingmeyer. 2005 kam es in Bielefeld zu einem schweren Unfall, als bei einem " Stechen" einer der Wagen in die Zuschauermenge fuhr und eine junge Frau tödlich verletzte. " Seitdem hat der , Carfreitag′ wohl generell seine Unschuld verloren", vermutet Schlingmeyer.

Und jetzt?

Freitage ob Kar- oder nicht unterscheiden sich an der Pagenstecherstraße seit mehreren Jahren nicht mehr von Donnerstagen oder Mittwochen. Zwar treffen sich immer mal wieder Tuning-Fans auf den anliegenden Parkplätzen, doch meldet die Polizei schon seit Jahren: " Keine besonderen Vorkommnisse." Auch die noch auf dem Mittelstreifen stehenden Schranken warten seit Jahren auf ihren Einsatz. Der jüngste Unfall habe jedenfalls nichts mit den berüchtigten Carfreitag-Rennen zu tun, sagt Georg Linke. Damit hat der Polizeisprecher wohl recht, schließlich ereignete sich der Unfall auch an einem Sonntag.

Ein multimediales Storytelling finden Sie hier: www.noz.de/ carfreitag
Bildtexte:
Massen an Schaulustigen bevölkerten 2002 die Pagenstecherstraße. Das gefiel weder der Polizei noch allen Tuning-Fans.
Noch im Jahr 2007 wurden die Fahrzeuge genauestens geprüft.
Rainer Schlingmeyer war einstmals stolzer Besitzer eines Honda CRX in Zitronengelb.
Fotos:
Archiv/ Michael Hehmann, Archiv/ Jörn Martens, Corinna Berghahn
Autor:
Corinna Berghahn


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