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Osnabrück. Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) hat sich für ein flexibles Zuwanderungssystem nach Deutschland ausgesprochen. Auf einer Diskussionsveranstaltung im Rahmen der NOZ-Agenda zum Thema Migration und Integration kritisierte er in Osnabrück die deutsche Regulierung als zu starr." So lange wir das nicht ändern, werden die Menschen nur die Chance haben, Asyl zu beantragen." Pistorius forderte ein neues, zusätzliches System, das eine Aufnahme von Zuwanderern unter Berücksichtigung ihrer Bildung und ihrer wirtschaftlichen Qualifikationen ermögliche, und unterfütterte damit das Papier zur Zuwanderung, das Thomas Oppermann als Fraktionschef der Sozialdemokraten im Bundestag am selben Tag vorgelegt hatte. Wie die übrigen Podiumsteilnehmer Danuta Sacher (Vorstandschefin des Hilfswerks terre des hommes), Andreas Zick (Direktor des Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung in Bielefeld) und der umstrittene Bestsellerautor Thilo Sarrazin plädierte er für mehr Engagement, um Fluchtursachen in den Herkunftsländern zu bekämpfen: " Wir können Milliarden ausgeben, um uns abzuschotten. Die Menschen werden trotzdem vor Not und Elend fliehen." Aber auch wirtschaftliche Not könne zu Flucht führen und sei als Motiv legitim, erklärte der Minister. Sarrazin, immer noch Mitglied der SPD, sagte dagegen, Flucht müsse dadurch verhindert werden, dass das Geschäft der Schleuserorganisationen lahmgelegt werde. Und: " Man muss den Flüchtlingen helfen – am besten in ihrer Heimat." Er verwies auf die Situation in Deutschland nach 1945. Damals habe das Land es geschafft, viele Millionen Vertriebene aufzunehmen; sie hätten ins Ausland fliehen können. Dieses Modell würde funktionieren. Sacher und der Sozialpsychologe Zick lenkten die Aufmerksamkeit auf die humanitäre Verantwortung insbesondere gegenüber Flüchtlingen aus Kriegsgebieten. Der Wissenschaftler verwies auf Fluchtursachen, die auf Fehlentwicklungen der globalen Wirtschaft beruhten. Sacher betonte neben einem Appell zur Menschlichkeit (" Das Mittelmeer ist zum Massengrab geworden"), dass subventionierte Agrarexporte aus Europa nach wie vor dazu führten, dass Wirtschaftszweige in Afrika zusammenbrächen. Pistorius sagte, wenn Menschen nicht geholfen werde, die ihr letztes Hab und Gut verkauft hätten, um einen Schlepper zu bezahlen, sei das von Pegida-Vertretern zuletzt so leidenschaftlich bemühte " christliche Abendland" tatsächlich in Gefahr. Dass Integration derweil auch bei allseits bestem Willen nie ohne Konflikt gelingt, veranschaulichte Zick: " Das weiß jeder, der einmal geheiratet hat." Zum Protest anderer Podiumsgäste (Pistorius: " Platter Blödsinn") verwies Sarrazin darauf, dass die Herkunftsländer eine Eigenverantwortung hätten und Integrationsprobleme auch kulturell bedingt seien. Ostasiaten hätten sie weniger, islamische Zuwanderer mehr. Der Fall Griechenland zeige, wie naiv die Erwartung sei, eine Kultur würde sich ohne Weiteres auf eine mitteleuropäische Vorstellung umprogrammieren lassen. Rund 60 Personen aus dem linken Spektrum demons trierten vor dem Redaktionsgebäude gegen Sarrazin, Pistorius und die Diskussion. Laut Polizei wollten rund 25 den Saal stürmen und die Veranstaltung platzen lassen. Die Polizei verhinderte es. Alle Teilnehmer der NOZ-Agenda-Veranstaltung im Video-Statement auf noz.de Das sagt der DIW Präsident Marcel Fratzscher zum Thema: Video auf noz.de Lesen Sie dazu auch die Beiträge unserer Migrationsserie auf noz.de/ agenda Weitere Hintergründe und Analysen auf noz.de/ flüchtlinge Bildtext: Kontroverses Podium: Minister Pisorius, terra-des-homes-Chefin Sacher, NOZ Chefredakteur Ralf Geisenhanslüke, Integrationsforscher Zick, Autor Sarrazin (von links). Foto: Michael Gründel Osnabrück. Teils sachlich, teils sehr emotional haben die Teilnehmer der Podiumsdiskussion im Rahmen der NOZ-Agenda über Migration und Integration diskutiert. Vor dem Gebäude demonstrierten ab dem frühen Dienstagabend Aktivisten gegen die Veranstaltung. Wer über Migration spricht, kommt nicht daran vorbei, einen Blick auf die Situation an den Außengrenzen Europas zu werfen. Die Vorstandschefin des Osnabrücker Kinderhilfswerks terre des hommes (tdh) schilderte gleich zu Beginn des Gesprächsabends eindrücklich ihre Erfahrungen aus Auffanglagern in Italien. " Dort sind junge Flüchtlinge, die mir sagten, sie fühlten sich nur noch als Körper, nicht mehr als Menschen", berichtete Sacher und rief zu einer humaneren Flüchtlingspolitik in Europa auf. " Es ist falsch zu glauben, die Menschen würden nicht mehr zu uns kommen, nur weil wir unsere Rettungsmaßnahmen auf dem Mittelmeer reduzieren. Damit machen wir das Mittelmeer zum Massengrab", mahnte Sacher unter Beifall. Im Mittelpunkt der von NOZ-Chefredakteur Ralf Geisenhanslüke moderierten Diskussion stand die Frage, welche Chancen Migration bieten und wie Integration gelingen kann. In einem Eingangsstatement skizzierte die NOZ-Reporterin und Außenexpertin Franziska Kückmann die weltweite Flüchtlingssituation. Ein Filmbeitrag aus dem neu eingerichteten Auffanglager in Osnabrück gab ebenso einen weiteren Impuls für die Diskussion wie ein Videostatement des Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), Marcel Fratzscher, über die wirtschaftliche Notwendigkeit von Zuwanderung. Landesinnenminister Boris Pistorius (SPD) erinnerte an eine Erkenntnis Willy Brandts: Solange es Armut in der Welt gebe, werde es keinen Frieden in der Welt geben. Deswegen würden sich Menschen weiterhin auf die Flucht begeben, um ihren Familien eine Existenz zu ermöglichen. Andreas Zick, Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld, rückte Fehlentwicklungen in der globalen Wirtschaft als Fluchtgründe in den Vordergrund. Von einer westlichen Verantwortung für die Probleme in den Herkunftsländern wollte der Bestsellerautor Thilo Sarrazin indes nichts wissen. " Für die Probleme, die es in Afrika gibt, sind alleine die afrikanischen Staaten verantwortlich, und diese müssen sie auch selbst lösen", konstatierte der frühere SPD-Politiker, der sich in der Vergangenheit mit seinem Buch " Deutschland schafft sich ab" den Vorwurf des " Kulturrassismus" eingehandelt hatte."' Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott' – das ist Blödsinn", ging Pistorius Sarrazin als " einfacher, biertrinkender Osnabrücker" an, dem diese Sicht " schlicht zu schlicht" sei. Der Innenminister warf seinem Gesprächspartner eine rückwärtsgewandte Weltsicht vor. " Wir leben in einer globalisierten Welt und können uns nicht einmauern und so tun, als würde uns das nichts angehen", erregte sich Pistorius. Unterstützung bekam er dabei von tdh-Chefin Sacher: " Europa ist ein Global Player, der in andere Ökonomien eingreift – und das bleibt nicht ohne Folgen." Mit Blick auf die Diskussion in Deutschland forderte Pistorius eine genaue Differenzierung. " Wir benötigen zum einen ein Asylsystem mit Integrationshilfen für Menschen in Not, die uns brauchen", sagte der Osnabrücker. " Und wir benötigen zum anderen ein Zuwanderungssystem für jene Menschen, die wir brauchen." Dabei hob er den Bedarf an gut ausgebildeten Migranten hervor. Sarrazin mahnte hingegen, Deutschland schrumpfe mit jeder Generation um ein Drittel – und dieses Problem lassen sich auch durch Zuwanderung nicht lösen. " Diese Annahme ist absolut albern", kritisierte er. Am Rande der Veranstaltung sagte er: " Wir müssen dafür sorgen, dass die Richtigen kommen und die Falschen draußen bleiben." Forscher Zick beklagte auf dem Podium, das Niveau der Diskussion über Integration in Deutschland sei viel zu niedrig. Wer denke darüber nach, was für Traumata die Menschen mitbrächten, fragte er. Außerdem warb er um Verständnis: Kaum einem Migranten gehe es um sich selbst. Die Forschung zeige immer wieder, dass es die nächste Generation sei, die es einmal besser haben solle. Dass Zuwanderer auf das deutsche Sozialsystem schielen würden, treffe daher in der Regel nicht zu. Vielmehr wollten sie dezidiert Leistung erbringen. Wer über die Zuwanderung von Arbeitskräften nachdenke, dürfe die Folgen in den Herkunftsländern nicht aus dem Blick verlieren, mahnte tdh-Chefin Sacher. Ein Arzt pro 1000 Einwohner mehr senke die Kindersterblichkeit um rund 45 Prozent. Werde dieser Arzt jedoch nach Deutschland abgeworben, habe das Folgen, und ein Ausgleich sei demnach nötig. Die Vorberichterstattung und ein Interview zum Thema Migration mit IMIS-Direktor An dreas Pott auf noz.de/ agenda Bildtexte: Vor dem Gebäude der NOZ demonstrierten Gegner von Thilo Sarrazin. In der Diskussion auf dem NOZ-Podium: (von oben links im Uhrzeigersinn) Konfliktforscher Andreas Zick, Landesinnenminister Boris Pistorius, Bestsellerautor Thilo Sarrazin, und die Vorstandschefin von terra des hommes. Danula Sacher. Fotos: Michael Gründel Agenda Migration Vierteljährlich nimmt die NOZ im Rahmen einer " Agenda" Themen der Zeit vertieft unter die Lupe. Diesmal: Migration. In dieser Woche beleuchten wir in einer Porträtserie jede Art davon, nach Deutschland und von Deutschland aus, damals und heute, wirtschaftlich getrieben, aus Furcht um Leib und Leben oder auf der Suche nach Verwirklichung. An diesem Donnerstag erscheint zudem eine NOZ-Wirtschaftszeitung zum Thema. Berlin. Die SPD will qualifizierte Einwanderer ins Land locken. SPD-Fraktionschef Oppermann setzt auf ein Punktesystem nach kanadischem Vorbild und auf Quoten. Es gebe künftig einen Bedarf an jährlich 300 000 bis 400 000 Einwanderern. Oppermanns Positionspapier wurde gestern einstimmig von der SPD-Bundestagsfraktion beschlossen. Bei CDU und CSU holte sich der Sozialdemokrat eine Abfuhr. " Die SPD macht ihre Sache und wir unsere", sagt Unionsfraktionschef Volker Kauder äußerst kühl. Geht es nach ihm, hat Oppermann sein Sechs-Seiten-Konzept für den Papierkorb produziert. ." Ich sehe keine Notwendigkeit, an den jetzigen gesetzlichen Regelungen etwas zu ändern", grenzt sich auch CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt vom Partner SPD ab. Auch Innenminister Thomas de Maizière (CDU) sieht keinen Bedarf. Oppermann will sich davon nicht beeindrucken lassen: " Dieses Projekt ist eigentlich ein Projekt, das eine Große Koalition stemmen müsste." Sonst werde es bei der Wahl 2017 zur Abstimmung gestellt. Aufgrund der demografischen Entwicklung verliert Deutschland nach seinen Angaben bis 2025 bis zu 6, 7 Millionen Erwerbsfähige. " Je nach Bedarf kann zur Steuerung eine jährliche Quote festgelegt werden, wie viele Personen über das Punktesystem kommen können", heißt es in dem Papier. Punkte würden vergeben nach Bedarf, Sprachkenntnissen und Ausbildung. Das System könne mit einer Bewerberdatenbank kombiniert werden, in die Arbeitgeber Gesuche einstellen. ¦ Aufenthaltsgenehmigungen würden zunächst auf drei Jahre befristet – diese Fristen würden erst aufge hoben, wenn der Bewerber nachweist, dass er seinen Lebensunterhalt sichern kann." Mit einem solchen System gewinnt beispielsweise Kanada jedes Jahr rund 250 000 qualifizierte Einwanderer", heißt es in dem Oppermann-Papier weiter. Der Sozialdemokrat betont, das Punktesystem könnte zunächst als Pilotprojekt starten. Vor allem sollten IT-Spezialisten nach Deutschland kommen. Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Ulrich Grillo, begrüßte die Debatte. Der Deutsche Gewerkschaftsbund erklärte, der Vorschlag der SPD gehe in die richtige Richtung. Die Jungsozialisten hat Oppermann nicht auf seiner Seite. " Ein Punktesystem ist nichts mehr als eine reine Nützlichkeitsbewertung für die deutsche Wirtschaft", kritisierte die Juso-Bundesvorsitzende Johanna Uekermann. Ein neues Einwanderungsgesetz dürfe nicht zu " Rosinenpickerei" führen. Oppermann hatte einige Strapazen auf sich genommen, bevor er sein Positionspapier formulierte. Bei 24 Minusgraden bereiste er vor Kurzem das Vorzeigeland Kanada und informierte sich dort. Demnächst wird auch CDU-Generalsekretär Peter Tauber dorthin aufbrechen. Warum? Das konnte sein Parteikollege Michael Grosse-Brömer, Unionsfraktionsgeschäftsführer, nicht so recht beantworten. Tauber hatte die Debatte mit einem eigenen Vorstoß zu einem Einwanderungsgesetz im Januar losgetreten und biss bei der Mehrheit der Unionsfraktion auf Granit. Reden müsse man ja wohl noch dürfen, maulte daraufhin der Parteinachwuchs. Bundeskanzlerin und CDU-Chefin Angela Merkel sagte zu Oppermanns Vorstoß nur, das müsse geprüft werden. Drängender sei im Augenblick " die Frage der sehr vielen Flüchtlinge, die wir haben". Bei der Bewältigung dieser Aufgabe arbeiteten Union und SPD " sehr, sehr gut" zusammen. CSU-Politikerin Hasselfeldt hat da wohl andere Erfahrungen gesammelt. " Ach, wissen Sie, so eine Koalition ist ja kein Wellness-Tempel", sagte sie gestern. Bildtext: Wagt einen Vorstoß: Thomas Oppermann. Foto: dpa Kommentar Weitsichtig Einwanderung – das ist ein Stichwort, das bei vielen Unionspolitikern immer noch Abwehrreflexe auslöst. Der Koalitionspartner SPD ist da weiter. Die Sozialdemokraten besetzen mit ihrem klugen Positionspapier zur Reform der Einwanderungsgesetze ein wichtiges Thema. Und wenn sich in der laufenden Legislaturperiode nichts mehr ändern lässt, dann eben in der nächsten. Lobenswert ist vor allem der Blick über den Tag hinaus. Zwar ist Deutschland nach den USA bereits das weltweit beliebteste Einwanderungsland. Doch kommen aktuell vor allem EU-Bürger aus den südlichen und östlichen Krisenstaaten. Wenn es diesen Ländern – hoffentlich bald – besser geht, werden viele Menschen in ihre Heimat zurückkehren. Es ist deshalb sinnvoll, sich verstärkt um Einwanderer aus Drittstaaten außerhalb der EU zu bemühen. Genau diese Gruppe nimmt die SPD-Spitze jetzt in den Blick. Ihr Plan eines Punktesystems bietet die Chance, Einwanderung nachfrageorientiert zu organisieren. Der Vorwurf der Rosinenpickerei, wie er auch aus der SPD zu hören ist, geht am Thema vorbei. Schließlich ist es das Ziel, Deutschland eine ausreichende Zahl von Arbeitskräften zu sichern. Und das geht nun einmal nur, wenn man auf Qualifikationen achtet. Das Grundrecht auf Asyl will die Parteispitze dagegen ausdrücklich nicht antasten. Das ist gut so. Denn der Schutz vor Verfolgung muss frei sein von Nützlichkeitserwägungen. Osnabrück. Vor 70 Jahren zogen Vertriebene in die Region, nun kommen erneut Flüchtlinge aus Kriegsgebieten. Der Migrationsforscher Jochen Oltmer von der Universität Osnabrück erläutert die Hintergründe von Aus- und Zuwanderung. Herr Professor Oltmer, Niedersachsen richtet sich auf mehr Kriegsflüchtlinge ein. Das gab es nach dem Zweiten Weltkrieg schon einmal. Wie wurden Flüchtlinge und Vertriebene aus Schlesien und Ostpreußen damals aufgenommen? Die Ablehnung war riesig. In einer Katastrophengesellschaft, wie die deutsche sie damals war, in der Menschen von außen dazukommen, gibt es Verteilungskämpfe: um Lebensmittel, um Wohnraum, später auch um Arbeitsplätze, die auf dem Land rar waren. Man musste teilen. Man musste fremde Familien in seinem Haus aufnehmen. Offenbar nahmen die Spannungen dann ab. Viele Menschen wanderten weiter in die Industriezentren des Ruhrgebiets, andere gründeten Unternehmen. Unter den Zuwanderern waren Kaufleute und Handwerker, die versuchten, hier wieder eine selbstständige Existenz aufzubauen. Nicht immer sind Krieg und Not die Ursachen – warum verlassen Menschen im Frieden ihre Heimat, um in der Fremde neu anzufangen? Es sind zumeist junge Menschen auf der Suche nach Chancen. Ihre Abwägung lautet: Wenn ich dort bessere Chancen habe als hier – egal ob in 50 Kilometern Entfernung oder in 5000 –, dann ist das für mich der richtige Weg. Locken vor allem ökonomische Chancen? Sie sind ein häufiges Motiv, auch sehr wichtig sind aber Bildungs- und Ausbildungschancen. Die verbreitete Annahme, regionale Wohlstandsunterschiede führten zu Wanderungsbewegungen, greift dagegen zu kurz. All diese Bewegungen finden nämlich in verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Netzwerken statt, in denen intensiv kommuniziert wird, in denen man den Informationen traut, die man bekommt. Gilt das für alle Migrationsbewegungen auf der Welt – gestern wie heute? Ja. Blicken Sie zurück ins 19. Jahrhundert. Da war das Osnabrücker Land eines der größten Auswanderergebiete Deutschlands. Zehntausende gingen in die USA, und zwar nicht irgendwohin, sondern nach Missouri. Als die Georgsmarienhütte gebaut wurde, gelang es nicht, genug Arbeitskräfte aus der Umgebung dort hinzulocken, weil viele es vorzogen, ihren Verwandten und Bekannten 6000 Kilometer weit nach Missouri zu folgen. Es gab ein vertrauenswürdiges Netzwerk dorthin, aber keines in die Umgebung der Georgsmarienhütte. Gibt es solche Netzwerke heute noch? Durchaus. Wir wissen, dass die Bundesrepublik relativ viele Flüchtlinge aus Syrien aufnimmt, weil schon vor Beginn des Bürgerkrieges relativ viele Syrer hier lebten. Wenn Menschen Krisen- und Kriegsgebiete verlassen, ist Deutschland häufig ein Ziel, weil sie von Bekannten und Verwandten Informationen über Deutschland haben. Im Emsland hat man mit großem Engagement junge Spanier als Praktikanten und Azubis in die Region geholt, um den Nachwuchs- und Fachkräftemangel zu lindern. Die meisten sind nicht geblieben. Wie erklären Sie sich das? Obwohl wir seit den Sechzigerjahren Freizügigkeit haben und diese auch intensiv propagiert wird, leben nur zwei Prozent der Unionsbürger in einem anderen Land der EU. Das ist fast nichts. In den Jahren der Krise hat die Bewegung nach Deutschland zugenommen, doch ist sie sehr überschaubar. In diesem Licht muss man Programme wie das emsländische sehen. Es sind Programme und eben keine Netzwerke. Wissen wir in Deutschland zu wenig über Migration? Die Migrationsforschung in Deutschland ist eine Katastrophe. Es gibt ein einziges Universitätsinstitut an einer recht kleinen Universität, das Fragen der Migration erforscht, nämlich unseres – in einem Land mit 80 Millionen Einwohnern, in dem Migration jeden Tag Realität ist. Werden in Deutschland Probleme der Zuwanderung verschwiegen? Die bisherige Diskussion reicht zumindest nicht aus. Einerseits, weil die Kenntnisse über Migration relativ gering sind. Andererseits aus Angst vor dem Wähler. Es ist die Vorstellung: " Wenn wir als Partei Migration in den Vordergrund rücken, bekommen wir ein Problem mit den Wählern." Die Parteien packen das Thema lieber nicht an. Das hat sich zuletzt zwar ein bisschen geändert mit der Diskussion um den demografischen Wandel und den Arbeitskräftebedarf. Aber es fehlt eine dauerhafte Diskussion darüber, was Migration eigentlich ist und was wir als Gesellschaft und als Staat wollen. Mit Migration beschäftigt sich auch die neue Ausgabe von " Die Wirtschaft" Sie ist ab Donnerstag im Presseeinzelhandel erhältlich.. Experten im Gespräch: Lesen Sie mehr auf noz.de/ interviews Bildtext: Migrationsforscher Jochen Oltmer Foto: Elvira Parton
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Autor:
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Burkhard Ewert, Christian Schaudwet, Franziska Kückmann, Beate Tenfelde, Uwe Westdörp
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