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NUSO-Archiv - Umweltgeschichtliches Zeitungsarchiv für Osnabrück
Umweltgeschichtliches Zeitungsarchiv für Osnabrück
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Erscheinungsdatum:
aus Zeitung:
Überschrift:
Auch an der Heimatfront gab es viele Tote
Zwischenüberschrift:
Ulrich Mühlenhoff hat die Mangelernährung während des Ersten Weltkrieges in Osnabrück erforscht
Artikel:
Kleinbild
Originaltext:
Osnabrück. Die Suppe wurde dünner, im Brot fanden sich zweifelhafte Zusätze. Während des Ersten Weltkrieges musste die Zivilbevölkerung für das wenige, das es zu essen gab, immer höhere Preise zahlen. Ulrich Mühlenhoff hat in den Archiven recherchiert, wie es damals um die Nahrungsmittelversorgung in Osnabrück bestellt war. Sein Fazit: Der Hunger ließ die Sterbezahlen in den letzten Kriegsjahren deutlich ansteigen. Und die Stadtverwaltung begegnete dem anhaltenden Mangel mit immer mehr Bürokratie.

" Die Stadt war nicht vorbereitet auf den Krieg", sagt Mühlenhoff, andere Städte seien es aber auch nicht gewesen. Der Agraringenieur, der zuletzt als Schulrat im Berufsschulwesen gearbeitet hat, ist auf eine ganze Reihe von Fehlern und Unzulänglichkeiten gestoßen, durch die sich die Not verschärft hat die aber offensichtlich zum Wesen des Krieges gehören. Mühlenhoffs Ausführungen sind eingeflossen in die Ausstellung " Eine deutsche Stadt im Ersten Weltkrieg. Osnabrück 1914–1918", die zurzeit im Museum Industriekultur zu sehen ist.

Osnabrück war in wenigen Jahrzehnten auf 81 000 Einwohner angewachsen. Die Industrialisierung hatte den Lebensstandard der Stadtbevölkerung erhöht und den Fleischkonsum pro Kopf in wenigen Jahrzehnten verdoppelt. Da mochten Kaiser und Generalstab noch so patriotische Reden schwingen der Krieg stürzte viele Familien von einem Tag auf den anderen in die Not.

Hamsterkäufe ließen die Preise für Lebensmittel in die Höhe schnellen, und die Stadt richtete schon drei Wochen nach Kriegsbeginn fünf Kriegsspeisehallen für die Armen ein. Für 15 Pfennig gab es dort eine Portion Brei oder Suppe. " Messer, Gabel und Löffel mitbringen", hieß es in den öffentlichen Anschlägen. Das wenige, das auf den Tisch kam, wurde im gleichen Maße teurer, wie es an Qualität verlor. Dem Brot wurden allerlei Bestandteile zugesetzt, für die sich sogar die Bäcker schämten. Kartoffelmehl war zwar teurer als Weizenmehl, aber im Gegensatz zu diesem verfügbar. Eine zehnprozentige Zugabe war obligatorisch, experimentiert wurde auch mit doppelt so hohen Anteilen. Nach der katastrophalen Kartoffelernte von 1916 kamen sogar Steckrüben als Streckungsmittel in den Teig. Sägemehl war zwar verboten, Ulrich Mühlenhoff ist aber ziemlich sicher, dass es ebenfalls verwendet wurde.

Eine strenge Bürokratie wachte über private und öffentliche Vorräte.

In manchen Kellern sollen die städtischen Kontrolleure mehrmals pro Jahr die Kartoffelmieten ausgemessen haben. Die Kommission, die anfangs nur aus Stadtbaurat Lehmann, Senator Wilkens und zwei Bürgervorstehern bestand, blähte sich zu einem immer größeren Apparat auf. " Am Ende des Krieges", schreibt Mühlenhoff, " kümmerten sich zwei Beamte, vier Angestellte, 75 Hilfsangestellte und 70 Arbeiter im 1916 gegründeten Lebensmittelamt um die Versorgung der Osnabrücker Bevölkerung."

Die Folge war ein Regelungswahn, der die guten Absichten oft ins Gegenteil verkehrte. Schon im ersten Kriegsjahr setzte die Kommission Höchstpreise für Lebensmittel fest. Mit dem Ergebnis, dass die Erzeuger diese verordneten Kurse als Richtwerte betrachteten und schlimmer noch ihre Waren über dunkle Kanäle vertrieben, die ihnen höhere
Erlöse versprachen. So entstand, mit unfreiwilliger Unterstützung der Behörden, ein Schwarzmarkt, auf dem es alles zu kaufen gab, das sich weniger betuchte Menschen nicht leisten konnten.

Ein Ereignis, das als krasses Beispiel staatlicher Fehlplanung genannt wird, ist der sogenannte Schweinemord im ersten Quartal 1915. Kurz zuvor hatten die Bauern bei einer Erfassung der Futterkartoffeln aus Angst vor Beschlagnahmung knappe Bestände gemeldet und damit eine aus Professoren zusammengesetzte Kommission zu einer Panikreaktion veranlasst. Reichsweit wurden über fünf Millionen Schweine geschlachtet. Kurzfristig war der Markt mit Schweine fleisch überschwemmt, und die Preise sanken. Aber der nachfolgende Mangel ließ sie in ungeahnte Höhen steigen, was wiederum staatliche Eingriffe nach sich zog, von denen vor allem Schwarzhändler und Schieber profitierten.

Die Stadt Osnabrück beteiligte sich am Lebensmittelhandel, kaufte Waren auf und gab sie zum Selbstkostenpreis an Bedürftige weiter. Wenn sich Gelegenheit bot, übernahm sie waggonweise Lebensmittel, die im Güterbahnhof festlagen, weil wegen der Truppentransporte keine Lokomotiven verfügbar waren. Frischen Speck aus Dänemark ließ sie räuchern, Lammfleisch aus Island in einer kurz zuvor installierten Gefrieranlage im Schlachthof einlagern. Größere Kartoffelvorräte wurden angelegt, um die Kriegsspeisehallen zu versorgen.

Für Schüler fiel monatelang der Unterricht aus, weil sie in den Wald geschickt wurden, um Brombeeren, Hagebutten, Eicheln, Kastanien, Bucheckern oder Brennnesseln zu suchen. Für den Sammelfleiß gab es ein Lob von der Stadtverwaltung. Zwischen den Zeilen hat Ulrich Mühlenhoff aber auch herausgelesen, dass sich nicht alle Schulen so emsig an der patriotischen Dienstleistung beteiligten, wie es gewünscht war. Ein Sammelsystem ganz anderer Art entstand für die noch frischen Abfälle aus Großküchen. Verfüttert wurden sie an Schweine und Hühner, die in einem kleinen Stall hinter dem städtischen Krankenhaus, der heutigen Volkshochschule, ihr kümmerliches Dasein fristeten.

In der Not des Krieges merkten Stadtbewohner, wie nützlich ein Gemüsegarten sein kann. So kam Osnabrück an seine erste Laubenkolonie. In der Wüste ließ die Stadt von russischen Kriegsgefangenen einige Hundert Schrebergärten anlegen. Heute gehören sie zur " Deutschen Scholle" und werden immer noch genutzt. Der Ertrag war damals eher bescheiden, wie Ulrich Mühlenhoff vorrechnet: Auf 100 Quadratmetern ließen sich bei guter Pflege, aber wenig Dünger vier Zentner Kartoffeln ernten. Eine bescheidene Ausbeute, aber ein kleiner Beitrag gegen den Hunger.

Je weniger auf den Tisch kam, desto penetranter wurden die patriotischen Parolen. " Dünner werden ist für uns daheim nationale Pflicht", schrieb ein Pfarrer namens Huschenbett in einem Durchhalteappell und propagierte ein Ideal, das dem Bild des berüchtigten Mager-Models wohl schon sehr nahe kam. Eine praktische Anleitung wollte der Bund Deutscher Frauenvereine mit einem wöchentlich herausgegebenen Kriegskochbuch geben. Doch dafür hagelte es Spott, auch in Leserbriefen der Osnabrücker Zeitung. " Für 1, 20 Mark kann man nirgends 1 1/ 2 Pfund bekommen, nicht einmal genießbare Margarine, sondern höchstens 3/ 4 Pfund, also nur die Hälfte", schrieb ein Anonymus, der sich " Einer für Viele" nannte. Ebenso unrealistisch seien die angegebenen Preise für Kartoffeln, Fleisch und Speck.

Vor den Geschäften bildeten sich lange Schlangen. Für Lebensmittel wie Brot, Vollmilch und Fleisch ließ die Stadt Bezugskarten drucken. Bald wurde aber auch den patriotischsten Zeitgenossen klar, dass eine Brotkarte ein Versprechen ist, das nicht unbedingt eingelöst wird.

Beim Blick auf die Situation in Osnabrück fällt auf, dass es hier keine Hungerrevolten gegeben hat wie in anderen Städten. Aber die Menschen hätten unglaublich gelitten, sagt Ulrich Mühlenhoff. Er hat eine frühere Kollegin aus der Fachschule für Hauswirtschaft gebeten, den Nährwert von Gerichten aus einem damals propagierten Wochenspeiseplan zu berechnen. Mit den zugrunde gelegten Mengen lässt sich allenfalls der durchschnittliche Energiebedarf für Kinder im Alter von sieben oder zehn Jahren decken. Es fehle an fast allem, an Kohlehydraten und Eiweiß, an Calcium, Vitamin D und Eisen, lautet das Fazit. Wachstumsverzögerungen bei Kindern und schlechte Wundheilung, aber auch Blutarmut und Rachitis könnten die Folge sein.

Belegt sind sogar erheblich steigende Sterbezahlen. Mühlenhoff beruft sich auf Statistiken, die für 1917 reichsweit 32 Prozent mehr Todesfälle gegenüber der Vorkriegszeit ausgemacht haben, 1918 sogar 37 Prozent. In diesen Zahlen sind die Opfer von Lungen- oder Kehlkopftuberkulose gar nicht erfasst, ebenso wenig die Todesfälle, die der Spanischen Grippe zugeschrieben wurden. Schon die bereinigte Statistik habe eine erschreckende Dimension, sagt der Chronist des Mangels. Er schreibt auch diese Toten dem Krieg zu, denn die Krankheiten seien auf schlecht ernährte Menschen gestoßen, denen die Widerstandskräfte gefehlt hätten. Gestorben wurde also nicht nur auf den Schlachtfeldern, sondern auch an der Heimatfront.
Bildtexte:
Speisung für die Armen: In der Musküche verarbeiteten patriotisch gesinnte Frauen Früchte zu Brotaufstrich.
" Die Stadt war nicht vorbereitet auf den Krieg", sagt Ulrich Mühlenhoff, der sich intensiv der Ernährungssituation im Ersten Weltkrieg gewidmet hat.
Die ersten Kleingärten in Osnabrück entstanden aus der Not heraus. Als die Versorgungslage für die Zivilbevölkerung immer dramatischer wurde, mussten russische Kriegsgefangene in der Wüste Gartenparzellen anlegen. Das Foto entstand 1917.
Als Demütigung empfanden es die Menschen, dass sie nach der schlechten Kartoffelernte von 1916 mit Steckrüben vorliebnehmen mussten, eigentlich ja Viehfutter.
Für 15 Pfennig eine Portion: Schon kurz nach Kriegsbeginn richtete die Stadt ihre Kriegsspeisehallen ein. Die Not ließ sich dadurch kaum lindern.
Lebensmittelkarten aus Osnabrück;
Eine Deutsche Stadt im Ersten Weltkrieg. Osnabrück 1914–1918. Ausstellung im Museum Industriekultur
Foto:
Niedersächsisches Landesarchiv, Jörn Martens
Autor:
Rainer Lahmann-Lammert


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