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NUSO-Archiv - Umweltgeschichtliches Zeitungsarchiv für Osnabrück
Umweltgeschichtliches Zeitungsarchiv für Osnabrück
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Erscheinungsdatum:
aus Zeitung:
Inhalt:
Überschrift:
Nicht für alle Kinder gemacht
Zwischenüberschrift:
Am 1. August startet die Inklusion in Niedersachsen mit vielen Unbekannten
Artikel:
Kleinbild
Originaltext:
Osnabrück. Die Förderschulen haben Angst, geschlossen zu werden, die Regelschulen das Problem, die zieldifferenzierte Ausbildung umzusetzen, die Eltern die Wahl dazwischen stehen die Kinder. Kurz vor dem Start der Inklusion an niedersächsischen Schulen ist vieles unklar.

Nach zehn Minuten kann sich Rafael, der eigentlich anders heißt, nicht mehr konzentrieren, sein Förderschwerpunkt: geistige Entwicklung. Bei dem Siebenjährigen, der in einer Pflegefamilie lebt, wurden das fetale Alkoholsyndrom (FAS) und die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) diagnostiziert. Seit einem Jahr besucht er als I-Kind die erste Klasse einer Grundschule im Südkreis. Er habe Glück gehabt, dass er noch ein Integrationskind sei, und kein Inklusionskind, sagt seine Pflegemutter Martha H., die ebenfalls anonym bleiben möchte.

Wenn ab dem 1. August die Inklusion offiziell startet, können, vereinfacht gesagt, Kinder, die zuvor von Förderschullehrern unterrichtet wurden, Regelschulen besuchen. Auf welche Schule das Kind geht, entscheiden die Eltern. Allerdings werden nach dem derzeitigen Gesetz die Förderschulen mit dem Schwerpunkt Lernen ab dem Schuljahr 2013/ 2014 auslaufen 2019 wäre dann Schluss. Im Landkreis Osnabrück stehen sieben vor dem Aus. Gerade in ländlichen Gebieten wird der Schulweg zu einer entsprechenden Förderschule weit. Das war auch der Grund, warum Rafael nicht auf die weiter entfernte Förderschule geht. Der Junge sei bis zu seiner Einschulung in Fördereinrichtungen entfernt vom Wohnort gegangen. " Er fing an, unter sozialer Isolation zu leiden", sagt Martha H. Sie wollte ihren Sohn auch nicht auf die Grundschule am Wohnort mit rund 200 Schülern schicken. " Große Gruppen machen ihn orientierungslos", sagt sie. In Rafaels Integrationsklasse im Nachbarort seien nun 14 Schüler. Fünf Förderstunden, sogenannte Rucksackstunden, stünden dem Jungen zu. Die Anzahl der Stunden berechne sich nach der Förderschulform, die das Kind besucht hätte. Die Eltern beantragten eine zusätzliche Integrationshilfe. In die Klasse gehe noch ein Kind mit Förderbedarf. In der Summe seien mit Förderlehrer, Grundschullehrer und Integrationshelfer an fünf Tagen die Woche zwei Betreuer in der Klasse.

Mit Start der Inklusion stehen den Schulen in der Woche zwei Stunden pro Klasse zu, in denen Schülern und Lehrern ein Sonderpädagoge zur Seite steht. Wenn Rafael sich nicht mehr konzentrieren könne, auf seinem Stuhl hin- und herpendele, störe, wie Martha H. erzählt, dann gehe einer der Betreuer mit ihm auf den Schulhof, bis sich sein Kopf wieder beruhigt habe.

Einzelkämpfer

Für die Lehrer an der Regelschule stellt sich die He rausforderung, " zieldifferenziert zu beschulen", so heißt es in der Sprache der Inklusion: für jeden Schüler Aufgaben erstellen, die seinem Lernniveau entsprechen. " Wenn man lernen und lehren als Einzelkämpfertum sieht, kann es nicht funktionieren", sagt Thorsten Steinbrinker, Schulleiter der Schule in der Dodesheide. An seiner Schule kümmerten sich Lehrer um Matheaufgaben in verschiedenen Niveaus, andere um Sach- oder Deutschaufgaben dann werde ausgetauscht.

Wie viele Sonderschullehrer werden gebraucht? Wie können Lehrer an Regelschulen fortgebildet werden? Reicht das alles, damit Inklusion funktionieren kann? Das niedersächsische Kultusministerium plane ein " Aktionsprogramm", in dem diese Fragen beantwortet werden sollen, schreibt Pressesprecherin Susanne Schrammar. Bis 2018 sollen 1800 zusätzliche Lehrkräfte für die Inklusion in Niedersachsen eingestellt werden. " Inklusion wird ein Prozess sein, der möglicherweise nicht von Anfang an perfekt laufen wird", so Schrammar. Es gibt Lehrer und Schulleiter, die sprechen von Katastrophe und Chaos.

Noch steht auch nicht fest, wie hoch der Bedarf im nächsten Schuljahr an Sonderschullehrern an den allgemeinbildenden Schulen sein wird. Es gibt keine Frist, bis wann die Eltern den Förderbedarf ihrer Kinder feststellen lassen und sich für eine Schule entscheiden müssen. " Dem Landkreis Osnabrück ist lediglich vereinzelt bekannt, dass Kinder mit Förderbedarf eine inklusive Schule in Trägerschaft der kreisangehörigen Kommunen besuchen werden", schreibt die Pressestelle des Landkreises auf Anfrage. An den Osnabrücker Gymnasien ist für das kommende Schuljahr kein Kind mit diagnostiziertem Förderbedarf angemeldet. Die Lehrer dort haben noch Schonfrist, denn bislang sind sie noch nicht darauf vorbereitet, Schüler zu unterrichten, die besonders auffällig sind. " Ich glaube, dass wir auf den Sachverstand der Förderschullehrer nie verzichten können", sagt der Schulleiter des Osnabrücker Gymnasiums " In der Wüste", Jürgen Westphal. Seit dem vergangenen Schuljahr gibt es an der Schule eine Arbeitsgruppe, " Unterrichtsentwicklung und Inklusion" heißt sie. Im August wird es eine schulinterne Fortbildung geben. In anderthalb Tagen sollen die Lehrer auf die Inklusion vorbereitet werden. Westphal bezeichnet die Inklusion als " Blackbox" – " es würde den Rahmen sprengen, sich auf jede Behinderung vorzubereiten", sagt er.

Frust

Das sehen auch Förderschulen ähnlich: " Ein Kind fängt mit so viel Frust an zu lernen", sagt Bettina Kruse-Schröder, " wenn es vorgelebt bekommt, dass andere immer alles besser können." Sie ist pädagogische Mitarbeiterin an der Schule in der Dodesheide. Schulleiter Steinbrinker bedauert, dass das Konzept des Grundschulförderbereichs, wo die Kinder in kleinen Klassen mit zeitweiser Doppelbesetzung unterrichtet wurden, ausläuft: " Das Konzept funktionierte", sagt er.

Rafael nimmt drei starke Medikamente. " Für uns als Eltern ist es eine große Erleichterung, dass wir uns nicht immer rechtfertigen müssen, warum er die Medikamente bekommt", sagt Martha H. " Alle wissen, wie er tickt", dass er " sehr große Probleme mit sozialen Kompetenzen" habe, sagt sie. In der kleinen Klasse werde alles sofort besprochen.

Was ist, wenn Rafael auf eine weiterführende Schule gehen wird, darüber möchte seine Mutter noch nicht nachdenken. " Prügeln wir ihn durch die Hauptschule, und dann?" Auf einer Förderschule hätte er die Chance, an Programmen zur Berufsvorbereitung teilzunehmen. An einem Tag sei er nach Hause gekommen und habe gesagt: " Die anderen Kinder haben gesagt, ich sei lernbehindert." Sie habe ihm geantwortet, andere Kinder seien " schwimmbehindert" oder " ausbaubehindert" Rafael baue gerne Sachen auseinander. Eigentlich sei er in der Klasse integriert und werde auch eingeladen. Manchmal aber, wenn er keine Lust auf Hausaufgaben habe, sage er: " Ich bin doch lernbehindert", sagt die Mutter.
Autor:
Désirée Therre


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