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NUSO-Archiv - Umweltgeschichtliches Zeitungsarchiv für Osnabrück
Umweltgeschichtliches Zeitungsarchiv für Osnabrück
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Erscheinungsdatum:
aus Zeitung:
Überschrift:
"NS-Lager konnten kein Geheimnis sein"
 
Arbeitskommandos fast auf jedem Bauernhof
Zwischenüberschrift:
US-Studie zählt 42 500 Orte des Nazi-Terrors auf – Sechsmal mehr als bekannt – Thamer: Überzogen
 
Reaktion auf NS-Studie im Emsland
Artikel:
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Originaltext:
Osnabrück. Im Nationalsozialismus soll es 42 500 Lager gegeben haben sechsmal mehr als bisher wissenschaftlich bekannt. Das wollen zumindest US-Forscher herausgefunden haben. Deutsche Historiker halten die 13-jährige Studie zwar für wichtig, relativieren aber deren Ergebnis.

" Enzyklopädie der Lager und Gettos. 1933 bis 1945" heißt das gewichtige Werk über NS-Lager in Deutschland und den von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten. Darin listen 400 Wissenschaftler des Holocaust Memorial Museum in Washington von A bis Z die ersten " Schutzhaftlager" von 1933 ebenso auf wie das Warschauer Getto, Konzentrations- und Vernichtungslager sowie Zwangsbordelle und " Judenhäuser". Nach der Vertreibung aus ihren Häusern waren Juden dort so lange gefangen gehalten worden, bis sie in ein KZ abtransportiert wurden. 2025 sollen alle Bände komplett sein.

Unter " B" wie Börgermoor, " E" wie Esterwegen und " N" wie Neu-Sustrum beschreibt Joseph Robert White im ersten Band akribisch Details aus einigen Emslandlagern. " 1935 wurde politischen Häftlingen viermal die Mittagsration gestrichen, weil sie sich weigerten, eine Soldaten-Delegation beim Besuch mit dem Börgermoorlied zu unterhalten", schreibt White.

" Die Zahl von 42 500 Lagern dürfte viele Menschen überraschen", sagt Geoffrey Megargee, einer von zwei Projektleitern, unserer Zeitung. Bestehende Forschungsergebnisse seien zusammengetragen worden. " Die Studie erinnert daran, dass der Holocaust und der Nazi-Machtmissbrauch nicht versteckt abliefen", so Megargee. " NS-Lager konnten kein Geheimnis sein." Er hoffe, die Studie trage dazu bei, " dass darüber diskutiert wird, wie viel die Menschen damals wussten. Und dass ihnen mehr bekannt war, als sie nach Kriegsende zugaben."

Hans-Ulrich Thamer (70), einer der bundesweit renommiertesten NS-Historiker, der vor vier Jahren die Ausstellung " Hitler und die Deutschen" in Berlin konzipierte, relativiert hingegen die US-Studie. " Ich halte das für etwas überzogen", sagt er. " So schrecklich das alles klingt: Es bringt keinen neuen Erkenntnisgewinn." So sei bekannt, " dass zum KZ Buchenwald ein Riesen-Netzwerk von Arbeitslagern gehörte". Daneben habe ein System von Konzentrationslagern der Geheimen Staatspolizei für renitente Zwangsarbeiter bestanden. " Wenn ich das alles mitzähle, komme ich natürlich auf eine hohe Zahl von Lagern", so Thamer. " Entscheidend ist, dass es sich um ein Phänomen handelte, das vor aller Augen geschah." Thomas Vogtherr, Vorsitzender der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, betont: " Das alte Argument, von der Nazi-Verfolgungspolitik nichts gewusst zu haben, zählt nicht mehr." Im Gegenteil: " Weil die Zeitgenossen des nationalsozialistischen Deutschland viel gesehen haben, müssten sie sich kollektiv schämen, dass sie nichts dagegen unternommen haben."
Bildtext:
Ihr Leiden ist vorbei: Befreite Zwangsarbeiter brechen im April 1945, kurz vor Kriegsende, von Osnabrück aus in andere Übergangslager auf. Zuvor waren sie vorübergehend in der leer stehenden Winkelhausenkaserne untergebracht.
Foto:
Archiv

Osnabrück. Das Fazit einer US-Studie, die eine äußerst hohe Zahl an Lagern im Nationalsozialismus aufführt, hält Andrea Kaltofen für wenig überraschend. Die Geschäftsführerin der Stiftung Gedenkstätte Esterwegen betont, " dass im Landkreis Emsland fast auf jedem Bauernhof teils in Scheunen, manchmal hinter Zäunen Arbeitskommandos mit Häftlingen, Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern eingesetzt worden sind".
Kaltofen wies aber ausdrücklich darauf hin, dass die von den US-Forschern gezählten Lager " sich in Zweck und Umfang erheblich unterscheiden". Wissenschaftlich erfasst seien zum Beispiel zwölf Lager im heutigen Landkreis Emsland und drei in der Grafschaft Bentheim. " Zählt man aber auch alle Arbeitskommandos hinzu, könnte die Zahl vierstellig werden. Gruppen von Verfolgten konnte man überall antreffen", sagte Kaltofen.

Kommentar
Netz des Grauens

Wissenschaftliche Studien sind immer streitbar; stets hätten andere Methoden, Definitionen und Grundannahmen zu anderen Ergebnissen führen können. Doch selbst bei vorsichtiger Lesart ist die Feststellung der Washingtoner Forscher erschreckend, die Nationalsozialisten hätten nicht 7000, sondern 42 500 Lager, Gettos, Folterkammern und Zwangsbordelle betrieben.

Denn augenscheinlich war das Netz des Grauens, das die Nazis über Europa spannten, deutlich dichter als bislang angenommen. Das lässt nicht nur die Totalität ihres Herrschaftsanspruchs in neuem Licht erscheinen, sondern auch die Rolle eines Großteils der Bevölkerung. Schon zu glauben, sie habe von den bislang bekannten Gräueltaten wenig mitbekommen, fiel schwer. Angesichts der neuen Zahlen ist es geradezu unmöglich.

Der Blick zurück sollte allerdings nicht zu einer weiteren Debatte über Mittäterschaft und Kollektivschuld verleiten, sondern sich auf die Opfer des Grauens richten vor allem jene, die noch leben. Denn wer bislang vergeblich auf Entschädigung wartete, hat nun möglicherweise neue Belege für sein Leiden. Zugleich muss das Ergebnis der Studie eine Lehre für Gegenwart und Zukunft sein: Augen auf, Geschichte kann sich immer und überall wiederholen auch im Kleinen, ganz nah.
Autor:
Klaus Jongebloed, Constantin Binder


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