User Online: 2 | Timeout: 23:09Uhr ⟳ | Ihre Anmerkungen | NUSO-Archiv | Info | Auswahl | Ende | AAA  Mobil →
NUSO-Archiv - Umweltgeschichtliches Zeitungsarchiv für Osnabrück
Umweltgeschichtliches Zeitungsarchiv für Osnabrück
Datensätze des Ergebnis
Suche: Auswahl zeigen
Treffer:1
Sortierungen:
Anfang der Liste Ende der Liste
1. 
(Korrektur)Anmerkung zu einem Zeitungsartikel per email Dieses Objekt in Ihre Merkliste aufnehmen (Cookies erlauben!)
Erscheinungsdatum:
aus Zeitung:
Inhalt:
Überschrift:
Wenn der Piesberg bebt
 
Schauerlich
Zwischenüberschrift:
Sprengungen erschüttern Häuser und Menschen - Was geschieht im Steinbruch eigentlich?
Artikel:
Kleinbild
Originaltext:
Wenn der Piesberg bebt

Spengungen erschüttern Häuser und Menschen - Was geschieht im Steinbruch eigentlich?

Von Wilfried Hinrichs (Text) und Gert Westdörp (Fotos)

Der Berg bebt wirklich. Wenn ihm mit brutaler Gewalt eine Scheibe abgeschnitten wird, grollt und zittert er für eine Sekunde. 71 Sprengladungen mit Insgesamt 7, 5 Tonnen Ammoniumnitratsetzen 35 000 Tonnen Gestein in Bewegung. Wer einmal das Beben in den Beinen gespürt hat, wundert sich nicht mehr, dass in den Häusern am Fuße des Piesberges die Tassen im Schrank wackeln.

In Pye und Lechtingen leben die Menschen seit Generationen mit Steinbruch und Bergbau. Die steinfressenden Maschinen haben sich in den vergangenen Monaten weiter nach Norden bewegt und sind in die Nähe der Häuser gerückt. Die Hausbesitzer machen sich Sorgen: Wenn im Piesberg gesprengt wird, so sagen sie, fallt Putz von der Decke, Fernseher hüpfen, Tassen fallen vom Tisch (wir berichteten). Die Aufregung ist groß. Deshalb haben wir uns selbst einen Eindruck verschafft.

Es ist Dienstagmittag. Auf dem Plan steht die vorerst letzte große Sprengung an der oberen der drei riesigen Treppenstufen (Bänke nennt der Fachmann sie). Von der dritten Bank soll heute eine knapp acht Meter breite und etwas über 100 Meter lange Scheibe sauber abgeschnitten werden. Die Experten sprechen von . Vorgabe". Das ist der Fels, der nach der Sprengung In verdaulichen Stücken am Fuß des Berges liegen soll.

Eine Woche brauchte Bohrmeister Heinz Freitag, um die 71 Sprenglöcher vertikal in den Felsen zu treiben. Die Löcher haben einen Durchmesser von 102 Millimeter und sind 20 Meter tief. In jedes passen 110 Kilo Sprengstoff aus Ammoniumnitrat. Die Ladungen, die im Abstand von 25 Millisekunden gezündet werden, sind mit pinkfarbenen Kabeln verbunden, den Zündschläuchen. Sie enthalten feinen Sprengstoff und funktionleren wie die klassische Lunte, die wir aus Westernfilmen kennen, nur dass das Feuer unsichtbar durch den Schlauch zischt.

Die Zündschlauche laufen in einem rostigen Druckkessel von der Größe einer Telefonzelle zusammen. Darin verkriecht sich Sprengmeister Vladimir Damilov, bevor es knallt. Die Elektrizität für den entscheidenden Funken produziert er selbst, denn Stromkabel gibt es in der Steinwüste nicht. Damilov kurbelt, kurbelt, kurbelt an einem kleinen Griff, der Akku ist geladen.

Damilovs Chef ist Werner Zschemisch, Geschäftsführer von Bohr- und Sprengtechnik aus Pölzig (Thüringen). Für diese Sprengung ist er extra angereist. Er weist den Beobachtern einen sicheren Platz auf dem Trichterrand zu, kümmert sich um die Sicherheit rundherum und gibt die Sprengung frei.

In diesem Moment schüttet der Himmel Schnee und Hagel aus. Damilov ist nur noch als kleiner roter Punkt erkennbar. Das Signalhorn, ein Mal. Pause. Das Signalhorn, zwei Mal. " Dann bis fünf zählen", hatte Werner Zschemisch gesagt.

Der Berg stößt eine Rauchfontane aus, ganz links. Dann mehrere. Eine Kettenreaktion. Wie ein Reißverschluss. Kein Knall, sondern Donnergrollen. Der Boden bewegt sich, die Schwingungen gehen durch die Beine. Gelber Rauch liegt über dem gewaltigen Trümmerberg. . Das reicht für eine Woche", urteilt Nico Steudel, Geschäftsfüher der Piesberger Steinindustrie.

Die Produktion ruht allerdings in diesem Monat, weil die Brecheranlage aus den 30er Jahren generalüberholt wird. Es dürfte die letzte Generalinspektion für den Steinknacker sein, denn der Betrieb, der zum Readymix-Unternehrnen gehört, will bis zum Herbst neue Anlagen im Innenraum des Steinbruches in Betrieb nehmen. Die alten Gebäude des Piesberger Bergbaus werden frei - für museale oder kulturelle Zwecke oder für die Bundesgartenschau 2013.

Gleichzeitig soll der Abbau nach Westen verschoben werden, ein entsprechender Antrag läuft. Das Genehmigungsverfahren ist sehr aufwendig, denn die Folgen für Umwelt und Nachbarschaft wollen genau bedacht werden. Es geht auch um so genannte geologische Fenster. Das sind sie Narben im Berg, die einen Blick auf die Erdgeschichte freigeben und geschützt werden sollen. Die derzeit in der Abbaugenehmigung festgelegten geologischen Fenster überlagern mehrere Millionen Tonnen abbaubaren Karbonquarzit. Das Unternehmen will lieber an anderer Stelle neue Fenster in den Berg schneiden.

Werden die Anträge genehmigt, haben die Steinbrecher Zugriff auf 30 Millionen Tonnen Karbonquarzit, aus dem zum Beispiel Gehwegplatten und Bordsteine produziert werden. Die Nachbarn müssten steh auf weitere 30 Jahre Steinabbau einstellen.

Allerdings sollen die Belastungen bald deutlich verringert werden, verspricht Nico Steudel. Die nächste Scheibe an der oberen Nord-Bank wird schon mit einem kleineren " Raster" abgeschnitten. Das hellst: kleinere Sprenglöcher mit weniger Sprengstoff für eine schmalere . Vorgabe". Das wird für den Steinbruch zwar teurer, die Häuser werden aber weniger wackeln.

Schauerlich

Als vor zwei Jahren der letzte große Gasometer in Georgsmarienhütte gesprengt wurde, hat Till erlebt, wie ein Kameramann vom Fernsehen zu spät auf den Auslöser drückte. l Den Knall verpasst, keine Bilder. Das würde uns nicht passieren, schworen sich Till und der Fotograf. Doch dann passierte etwas anderes: Just zur Minute der Sprengung verhängte ein Schauer aus Schnee und Hagel die Freilichtbühne mit einem grauen Schleier. Wer fotografiert, weiß, dass in solchen Situation der Autofocus verrückt spielt und das Teleobjektiv den Grauschleier noch stärker zusammenrafft. Pech gehabt. Bei der Besichtigung der Trümmer schien übrigens die Sonne wieder.

Bisübermorgen

Zur Sache

Ein kleiner Exkurs in die Physik: Die Wirkung der Erschütterungen hängt von der Frequenz der Wellen (gemessen in Hertz) und deren Schwinggeschwindigkeit (gemessen jn Millimeter pro Sekunde) ab. Je höher die Frequenz, umso höher darf die Schwingeschwindjgkeit sein, ohne Schaden anzurichten. Lange Wellen mit niedriger Frequenz greifen ein Fundament an wenigen Punkten an und wirken dadurch stärker (Siehe Grafik). Eine normale Piesberg-Sprengung löst bei zehn Hertz eine Schwinggeschwindigkeit von 0, 7 mm/ s aus. Der Grenzwert liegt bei 3 mm/ s in denkmalgeschützten Gebäuden und bei 5 mm/ s in Wohnhäusern. Eine Unwägbarkeit bleibt: Niemand kennt alle Stollen, die den Piesberg durchlöchern, keiner weiß, ob die Schwingungen alte Stollen zum Einsturz bringen können - oder schon zum Einsturz gebracht haben.

DA WACKELN DIE WÄNDE: Werner Zschemisch (oben rechts) legt die Lunte, die eine " Vorgabe" im Piesberg zum Einsturz bringt. Die Sprengungen erschüttern die Menschen und Häuser in der Nachbarschaft, obwohl die Schwingungen meist nur einen Bruchteil der erlaubten Werte erreichen.

EIN ALTER KESSEL dient Sprengmeister Vladimir Damilov als Schutzraum.

35 000 TONNEN farbonquarzit, von 7, 5 Tonnen Sprengstoff in verdauliche Stücke zerlegt
Autor:
Wilfried Hinrichs, Till


Anfang der Liste Ende der Liste